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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0509
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506

Grundsätze des Philosophierens

Als die Ansässigkeit in Kanaan Verführung wurde, da wurde das Leben in der Kul-
tur eine Quelle des Glücks in örtlichen, landesgebundenen Kulten, in Festen für
Fruchtbarkeitsgötter, im bäuerlichen Genuss der Jahreszeiten, im Rausch der Orgien.
Aber sogleich schlug das Gewissen. Ihren Ahnen, den Wüstennomaden, war der eine
Gott offenbar geworden. Er verwehrte die Göttlichkeit von Blut und Boden. Das Wü-
stenideal wurde festgehalten, aber nun als fernes, nicht gegenwärtiges, als ein vergan-
genes und zugleich idealisiertes Leben mit Gott selbst. Ein Kampf gegen das Aufge-
hen des fernen, bildlosen, unerbittlichen, allmächtigen, einen Gottes in dem Leben
eines Volkes, das zwar fromm wie alle Völker lebt, aber das Ferne, Ausserordentliche,
Einzige, Eine vergisst, wurde das Grundgeschehen bis zur Concentration allen Kultes
in Jerusalem unter Abschaffung sämtlicher mit dem Boden verbundenen und verbin-
denden Kulte. Diese Halbheit, die doch Jerusalem (Zion) als Wohnsitz Gottes und sei-
nen Kult an diesem Ort - also erdgebunden - als wesentlich behielt, wurde durch das
Schicksal der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar und der Deportation nach
Babylonien zunichte. Wieder war nun für den Juden auf neue Weise der Gott fern, in
Jerusalem, dessen Tempel nicht mehr stand: Die Loslösung von Boden, Heimat und
Staat brachte den alten Glauben in neue[,] aber damit seine eigentliche Gestalt. Ver-
wehrt wurde die nationale Religion. In der Losgelöstheit von allem in der Welt wurde
Jahwe nunmehr in vollem Bewusstsein Allgott, Menschheitsgott, der eine transcen-
dente Schöpfergott. In der Bodenlosigkeit gab es keinen Halt als nur in Gott.
Wieder aber kam die Verführung. Nicht Jeremias und nicht der Gottesknecht des
Deuterojesaias öffnet den Weg, sondern eine neue Bindung an Boden und Volk wurde
gefunden in der nunmehr voll ausgestalteten Gesetzesreligion (Hesekiel,426 Esra,427
Nehemia428). Heimkehr, Tempelbau, Mauerbau, Hierokratie waren die Folge. Aber in
den Juden wurde diese Verführung so wenig wie die früheren vernichtend. Hiob, Ruth
und einige der herrlichsten Psalmen entstanden in dieser Zeit als ein einziger Protest.
Als weiterhin aber die nationale Religion und neue politische Ansprüche in der
Makkabäerzeit völlige Verwirrung des Glaubens, Abfall ins Heidnische oder ins Ri-
tualgesetzliche bewirkt hatten und der Gottesglaube in der Enge starrer Formen oder
in der Preisgabe an die reiche Welt des Hellenismus verloren zu gehen schien, erwuch-
sen aus der Tiefe der alten jüdischen Seele, die nichts als Gott wollte, Jesus und sein
Widerhall im Volke. Als letzter Prophet führte er noch einmal ursprünglich zu Gott
zurück, nun in voller Weltlosigkeit. Im Bewusstsein, vor dem Ende der Welt zu ste-
hen, war an nichts als an Gott und die Liebe des Nächsten zu denken. Im weiten rö-
mischen Reich schlossen sich in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten die-
sem Glauben Menschen an, die ihrerseits sich bodenlos fühlten, die ausserhalb der
Welt stehend das ewige Heil suchten. Aber wie immer in der biblischen Religion musste
dieses Heil in der Ferne bleiben.
 
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