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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0510
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Grundsätze des Philosophierens

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In der Religion der Apostel wurde Christus als der Messias geglaubt, in der Welt
war die Erfüllung, die Fülle der Zeiten - verknüpft mit dem Glauben an das unmittel-
bar bevorstehende Weitende - erreicht. Wieder wurde eine Verführung zur Befriedi-
gung im Gegenwärtigen möglich. Sie liegt in der christlichen Religion, insofern sie
ein ursprünglich Heidnisches in sich aufgenommen hat. Aber bald blieb doch das Da-
gewesensein Christi nicht ausreichend. Der Gedanke der Wiederkehr Christi, an das
wirkliche Weitende und die Zukunftserwartung stellten die Ferne und die Sehnsucht
wieder her. Noch war die Welt, noch gab es nur Glauben, nicht Schauen.429 Entspre-
chend haben die Juden ihren Messiasglauben als Glauben an den kommenden Da-
vid, der in der Welt Vollendung, Herrschaft und Verwirklichung des echten Gottes-
glaubens bringen sollte, aufgegeben. Auch der jüdische Messias kommt am Ende der
Tage, ist in grenzenlose Ferne gerückt; das Leben wird eine einzige unendliche Erwar-
tung und Geduld, ein Hoffen und Harren mit dem einzigen Antrieb, den Dienst des
wahren Gottes zu bewahren bis zum letzten Augenblick, damit er noch da sei, wenn
die Stunde kommt.
Wann kommt sie? Heute kann der Prophet nicht anders antworten als vor 2500 Jah-
ren, die nur wie eine Sekunde sind: »Aus Seir ruft man mir zu: Wächter, wie spät in der
Nacht? Wächter, wie spät in der Nacht? Der Wächter spricht: Der Morgen kam und auch
die Nacht. Wenn ihr fragen wollt, kommt ein ander Mal wieder« (Jes. 21,11).430
Gemeinsam ist diesen Entwicklungen, die erst seit Paulus den Umkreis des jüdischen
Volks durchbrachen, das Äusserste, das in jedem entscheidenden Augenblick sowohl
durch die Situation in der Welt eintrat, wie vom Gläubigen selber aktiv betreten wurde:
Das Äusserste im Aufgeben3 von Volkstum und Staat, in Weltlosigkeit und Erwartung
des faktischen Weltuntergangs, die Gott als einziges Sein, als Weltschöpfer und Welt-
regierer offenbar werden liess, - das Äusserste in Gesetz und Ordnung der Esrareligion,
die die Tiefe persönlicher Frömmigkeit in unmittelbarer Beziehung zu Gott durch Ge-
genschlag zu voller Wucht erwecken musste, - das Äusserste des Märtyrertums, an dem
sich die Siegesgewissheit der Glaubenden hielt, - das Äusserste an Zukunftserwartung,
die den Messias, statt ihn in der Welt zu erwarten, an das Ende der Welt setzte.
Ausgeschlossensein, Geächtetsein, Ausnahmesein scheint in der Geschichte durch-
weg fruchtlos zu bleiben. Wir sehen nur das Stummwerden und das Verschwinden.
Aber zuweilen entspringt die höchste geistige Fruchtbarkeit gerade dem Äussersten. Es
ist sogar, als ob einfache Grundwahrheiten nur im Äussersten aufgehen. Ganze Zeit-
alter hämmern, bis der Mensch es begreift. In ruhigen Zeiten herrscht die grosse Ver-
gesslichkeit, der Schleier optimistischer Vorstellungen. Das fruchtbare Ausnahmesein
verwirklichen zumeist Einzelne. In der Entstehung der biblischen Religion ist es ein
Volk, das durch eine ununterbrochene Reihe grosser Einzelner von Moses bis Jesus in

im Aufgeben nach der Abschrift Schott statt in Aufgaben in den Abschriften Gertrud Jaspers undA. F.
 
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