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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0515
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512

Grundsätze des Philosophierens

So stehen gegeneinander die Kultreligion und die prophetische Religion des reinen
Ethos; die Gesetzesreligion und die Liebesreligion; der Einschluss in die starren For-
men (um das kostbare Gut des Glaubens durch die Zeit zu retten) und die Aufschlies-
sung für den Menschen, der Gott glaubt und liebt; die Priesterreligion und die freie
Gebetsreligion Einzelner; der Nationalgott und der Allgott; der Bund mit dem auser-
wählten Volk und der Bund mit dem Menschen als Menschen, der die Aufgabe aller
ist; Rechnung von Schuld und Strafe in diesem Leben selber (Glück und Unglück als
Maass von Verdienst und Sünde) und die heroische Haltung des Glaubens vor dem Ge-
heimnis; Religion der Gemeinschaft und Religion der Gottesmänner, Seher, Prophe-
ten; magische Religion und ethische Religion des vernünftigen Schöpfungsgedankens.
Ja in der Bibel sind noch eingeschlossen die grossen Gegensätze zum Glauben im Un-
glauben der Dämonologie, der Menschenvergötterung, des Nihilismus (dieser letztere
im Prediger Salomo).442
Die Folge dieser Polaritäten innerhalb der Bibel ist, dass sich alle Parteien, Tenden-
zen, Positionen in der nachfolgenden Geschichte irgendwo auf die Bibel berufen konn-
ten. Die Polaritäten, die dort klar entwickelt sind, sind immer wiedergekehrt, jüdische
Theokratie in christlichen Kirchen, Freiheit der Propheten in Einzelnen, in Mystikern,
in Reformatoren, das auserwählte Volk in einer ganzen Reihe sich für auserwählt hal-
tenden Völkern, Gemeinden, Sekten, Einzelnen. Es ist immer ein Wiederherstellen,
ein Gegenwirken gegen Fixierungen, ein lebendiges Schaffen auf dem Grunde der bi-
blischen Religion. Als ob es das Geschick des Abendlandes gewesen sei, durch die un-
erschütterliche Autorität des ihm zugrunde gelegten heiligen Buches alle Widersprü-
che des Lebens selber vorgebildet zu haben und dadurch frei zu werden für alle
Möglichkeiten und den unaufhörlichen Kampf zum schaffenden Emportreiben des
Menschen, der sich in seinem Tun von Gott geschenkt weiss.
dd. Der Eindruck der Bibel im Ganzen:443 Die Bibel umfasst in ihren Texten geistige
Niederschläge der primitivsten und der sublimsten menschlichen Wirklichkeiten. Das
hat sie mit anderen grossen Urkunden der Religion gemeinsam.
Aber schon das Barbarische im Anfang hat jene antike Grösse, die uns zögern lässt,
es einfach barbarisch zu nennen. Unbefangen werden die Dinge in ihrer Rohheit aus-
gesprochen. Etwas Ehernes spricht uns an in der Naivität.
Durch die Bibel geht eine Leidenschaft, die einzig wirkt, weil sie auf Gott bezogen
ist. Gott selber ist Leidenschaft, im Feuer des Vulkans,444 im Erdbeben,445 im Gewitter.446
Er steigert sich ins Unnahbare, lässt alle jene Stürme zu seinen Boten werden, während
er selber im leisen Säuseln unheimlich gegenwärtig wird,447 - er erhebt sich wie über alle
Bilder auch über diese sinnlichen Erscheinungen zum schlechthin transcendenten
Schöpfer, zum Allgott, der unvorstellbar, über allen Leidenschaften, undurchdring-
lich in seinen Ratschlüssen, aber immer noch selber gleichsam persönlich ist in dem
Pathos, von dem der Mensch sich ergriffen weiss.
 
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