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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0514
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Grundsätze des Philosophierens 511
so die Sublimierung des Kultus aus dem Opferdienst in das Abendmahl und die Messe.
Immer ist es Kultus. Aber die Propheten beginnen sich leidenschaftlich gegen den Kul-
tus zu wenden (nicht nur gegen die Gesinnung, die den Kultus falsch bewertet). Jahwe
spricht (Amos 5,21): »Ich hasse, verachte eure Feste und kann eure Feiertage nicht rie-
chen. Eure Gaben will ich nicht und die Opfer eurer Mastkälber sehe ich nicht an. Hin-
weg von mir mit dem Geplärre eurer Lieder, euer Harfenspiel mag ich nicht hören«435
(andere3 Stellen: Jesaias 1, n; Micha 6, 6; Jeremias 7, 21). Und Jahwe spricht (Hosea 6,
5): »Liebe will ich, nicht Opfer, Gotteskenntnis an Brandopfer statt.«436
2) Vom Dekalog an und dem Bundesgesetz bis zu den umfangreichen Gesetzen des
Deuteronomium und des Priesterkodex geht die Entwicklung der Gesetzesreligion. Das
Gesetz ist da in der Offenbarung Gottes durch das Wort der Thora, ist geschrieben.
Aber Jeremias wendet sich gegen das geschriebene Gesetz überhaupt. Die sich auf das
Deuteronomium stützen, ruft er an: »Wie dürft ihr sprechen: Weise sind wir! Wir ha-
ben ja das Gesetz Gottes! Ja freilich! Aber in Lüge hat es der Lügengriffel der Schreiber
verwandelt« (Jeremias 8,8). Gottes Gesetz liegt nicht im fixierten Satz der Schrift, son-
dern im Herzen: »Ich will einen neuen Bund schliessen, spricht Jahwe. Ich lege mein
Gesetz in ihr Inneres und schreibe es ihnen ins Herz «437 (3 L 33).
3) Vom Bundesschluss in Moses[’] Zeit an zieht sich das Bewusstsein des auserwähl-
ten Volkes durch die Bibel. Die Prophetie, die dieses Volk total vernichtet werden lässt,
wird früh eingeschränkt durch den Gedanken des »Restes«, der bleiben soll.438 Doch
früh auch wird der Charakter der Auserwähltheit auf gehoben. »Seid ihr mir nicht wie
die Kuschiten, ihr Israeliten? ist der Spruch Jahwes. Habe ich nicht Israel aus Ägypten
hergeführt und die Philister von Kaphtor und die Aramäer aus Kir?« (Amos 9,7).439 Gott
wird in der Exilszeit noch einmal zum Gott Israels, aber in einem und zugleich als Welt-
schöpfer auch der Allgott, der für alle Völker ist und sich sogar der Heiden Ninive’s ge-
gen die Engherzigkeit des Jonas erbarmt.440
4) Jesus wird zum Christusb441. Aber von vornherein steht dagegen der Satz des Je-
sus: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als der eine Gott (Mark. 10,18).
Solche Beispiele lassen sich vermehren. Man darf die Behauptung wagen, dass in
der Bibel, auf das Ganze gesehen, alles in Polaritäten vorkommt. Man wird am Ende
zu jeder Fixierung im Wort die widersprechende Fixierung finden. Nirgends ist die
ganze, volle, reine Wahrheit - weil sie im Satz der menschlichen Sprache oder in der
bestimmten Gestalt menschlichen Lebens nicht sein kann. In unserer beschränkten
Auffassung verschwindet uns jeweils der andere Pol. Die Wahrheit selber berühren wir
nur, wenn wir uns in hellem Bewusstsein der Polaritäten durch diese hindurch uns ihr
nähern.

a statt andere in der Abschrift Gertrud Jaspers Andere
b Christus nach den Abschriften A. F. und Schott statt Christen in der Abschrift Gertrud Jaspers
 
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