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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0524
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Grundsätze des Philosophierens

521

Aberglaube ist, kann aber nur Glaube siegen, nicht Wissenschaft. Welche Absurdität
kann heute etwa noch unumgängliches signum eines echten Glaubensinhalts sein?
Wenn eine Verwandlung aller Dogmen vollzogen wird, wer schafft sie?
Gibt es heute noch in den Volksmassen ein Schwergewicht durch kirchliche Ge-
bräuche als Ausdruck unbedingten Glaubens? Oder müssen die Volksmassen in ihrer
Fähigkeit zur Hingabe bis zum Märtyrertum neu entzündet werden durch Gehalte aus
restloser Wahrhaftigkeit? Oder ista schliesslich doch am Ende bewusste Unwahrhaftig-
keit überlegener Geister eine Bedingung des Fortgangs der Massenprägung und der
Überlieferung auch der tiefsten Gehalte?b455 Welche Lügen wären dann heute die un-
umgänglichen und wirksamen?c
Wieder werden wir uns bewusst, mit all solchen Fragen nicht das zu treffen, wor-
auf es eigentlich ankommt. Es ist das dem Philosophen unzugängliche Religiöse sel-
ber, das vorgegeben schon da sein muss. Es kann nicht geplant, nicht von aussen an-
geschaut werden. Die Bedeutung des Kultus, der Riten, der Feste, der dogmatischen
Vergewisserung, der Priester wird bei philosophischer Erörterung gewichtslos. Ist das
ein entscheidender Gegeneinwand gegen alle Philosophie? Ist die Idee einer philoso-
phischen Religion heute wie zu allen bisherigen Zeiten eine blutleere Illusion?456
d. Biblische Religion und Philosophie457
Es ist nicht nur unzureichend, was der Philosoph zur Religion sagt. Er scheint die Re-
ligion auch nie erreichen zu können, wenn er von ihr redet.
Philosophie hat den Antrieb zur ständigen Erweiterung ihres Horizontes. Sie geht
mit ihrem Blick von der bestimmten Bekenntnisreligion zur umfassenderen biblischen
Religion, von dieser zur Wahrheit in allen Religionen. Damit geht ihr aber gerade das
verloren, was wirkliche Religion auszeichnet. Während Philosophie meint, durch Aus-
weitung zum Universalen in die Tiefe der Religion zu dringen, verliert sie die Leibhaf-
tigkeit der Religion. Während sie sieht, dass diese Leibhaftigkeit des gemeinschaftlich
in bestimmter Überlieferung vollzogenen Glaubens die notwendige Gestalt der Reli-
gion ist, ist sie selber ihr fern, weil sie das nicht vollziehen, ja nicht eigentlich begrei-
fen kann, was sie sieht.
Philosophie, ob sie nun die Religion bejaht oder bekämpft, entzieht sich in der Tat
der Religion, aber auf eine Weise, in der sie sich ständig mit ihr beschäftigt.
aa. Philosophie setzt sich ein für die biblische Religion: Philosophie im Abendlande
kann sich dem Tatbestand nicht verschliessen, dass noch keiner der grossen Philoso-
phen ihres Bereichs bis Nietzsche einschliesslich ohne gründliche Kenntnis der Bibel

a ist im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu sollte
b Gehalte? im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu Gehalte sein? Nein.
c nach wirksamen? im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. Gewiss keine.
 
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