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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0523
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Grundsätze des Philosophierens

Ursprung wird von uns unwillkürlich gesehen als Erneuerung des im Religiösen ver-
borgenen philosophischen Glaubens, alsa Verwandlung der Religion in Philosophie
(oder philosophische Religion). Das aber wird gewiss nicht der Weg der Menschheit
sein, wenn auch vielleicht der Weg einer Minderheit.
Der Philosoph kann unmöglich dem Theologen und der Kirche sagen, wie sie es
machen sollen. Der Philosoph kann nur hoffen, Voraussetzungen zu bringen, die
gründlich zu erwägen dem wahrhaftigen Theologen unerlässlich wird. Er möchte hel-
fen, den Boden zu bereiten und den Raum der geistigen Situation fühlbar zu machen,
in dem wachsen muss, was er nicht schaffen kann.
Was seit einem halben Jahrhundert immer mehr Menschen aussprechen, wird,
trotzdem bald alle es sagen, immer wieder schnell vergessen: Ein neues Zeitalter ist im
Entstehen, das den Menschen bis zum letzten Individuum einer so radikalen Verwand-
lung unterwirft, wie sie in historischen Zeiten noch nie geschehen ist. Weil aber die
Verwandlung der Lebensverhältnisse so tief geht, muss die Wandlung religiöser Ge-
wissheitsformen entsprechend tiefer gehen, um das Neue tragbar und beseelbar zu ge-
stalten. Es ist eine Verwandlung dessen zu erwarten, was wir die Materie, das Kleid, die
Erscheinung, die Sprache des Glaubens nannten [,] und zwar eine Verwandlung so stark
wie alle anderen Verwandlungen unseres Zeitalters, - oder aber es geht die sich gleich-
bleibende ewige Wahrheit der biblischen Religion dem Gesichtskreis des Menschen
verloren; er erfährt sie nicht mehr und kein Gedanke kann ersinnen, was an deren
Stelle treten könne. Daher ist ein Ausholen zur Wiederherstellung der ewigen Wahr-
heit zu fordern, das bis in die letzten Ursprünge geht und unbekümmert um histori-
sche Vergänglichkeiten diese ewige Wahrheit in neuer Sprache zur Erscheinung bringt.
Der Philosoph gerät nur in Fragen, auf die er die Antwort nicht finden kann, wäh-
rend er doch weiss, dass die Zukunft die Antwort gewiss geben wird.
Was kann an Dogmen fallen, weil sie dem modernen Menschen in der Tat fremd
geworden und ohne Glaubhaftigkeit sind (z.B. Christus als Gott, die Bedeutung seinesb
Opfertodes, die Trinität)? Mag man vom Fallenlassen der Dogmen zunächst schwei-
gen, so muss doch der Denkende fragen: welche sind es, die sogar von den Bekennen-
den durchweg nicht mehr geglaubt werden?
Wo ist der sichtbare feste religiöse Boden, der bleibt (z.B. der eine Gott, die zehn
Gebote)?
Gibt es ein eigentümlich Absurdes, das als Glaubensinhalt heute tragbar oder gar er-
fordert ist? Man könnte meinen, dass die Fähigkeit gerade zu gröbsten Absurditäten im
modernen Menschen sogar wunderlich gesteigert ist. Er verfällt dem Aberglauben. Wo

a Glaubens, als nach der Abschrift Schott statt Glaubens als in den Abschriften Gertrud Jaspers und A. F.
b seines nach dem Vorlesungs-Ms. 1945/46 statt eines in den Abschriften Gertrud Jaspers und A. F.
 
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