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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0525
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Grundsätze des Philosophierens

philosophiert hat. Dieser Tatbestand ist nicht zufällig. Wir wiederholen noch einmal,
was schon erörtert wurde:
Erstens: Philosophie kann nicht leisten, was Religion dem Menschen gibt. Daher
lässt sie zum mindesten den Raum frei. Sie zwingt sich nicht als alleinige und ganze
Wahrheit für alle jedermann auf.
Zweitens: Philosophie kann auf die Dauer nicht in der Welt bleiben, wenn die
menschliche Gemeinschaft nicht religiös lebt. Denn die philosophischen Gehalte le-
ben im Volke allein durch religiösen Glauben. Die philosophische Mitteilung im Den-
ken hat keine bezwingende Macht, sondern klärt nur im einzelnen Menschen, was aus
diesem selbst entgegenkommt. Philosophie würde in immer seltener werdenden Ein-
zelnen sich zerstreuen und schliesslich verschwinden, wenn die Menschengemein-
schaft nicht lebt aus dem, was auch im philosophischen Glauben hell wird. Philoso-
phie kann die sociologisch wirksame Überlieferung der dem Menschen unerlässlichen
Gehalte nicht verwirklichen, welche allein in der religiösen Überlieferung von früher
Kindheit an stattfindet und mit dieser auch die Philosophie trägt.
Drittens: Die Gehalte der Bibel sind für unser Absehen durch kein anderes Buch er-
setzbar.
bb. Philosophie überschreitet die biblische Religion: Der Verkehr der Menschen,
der alles, was auf der Erde hervorgebracht wurde, in Berührung gebracht hat und zu
immer ernsthafterer gegenseitiger Mitteilung drängt, hat neben der Bibel zwei andere
grosse Kreise der Religion für uns sichtbar werden lassen: Indien mit den Upanischa-
den und dem Tripitaka,458 China mit Konfucius, Laotse. Dem nachdenklichen Men-
schen, der seine Seele öffnet, kann die Tiefe der von dort sprechenden Wahrheit nicht
verschlossen bleiben. Philosophie aber will Wahrheit hören, wo immer sie spricht. Sie
will sich ins Grenzenlose erweitern.
Hier nun liegt ein typischer Irrweg nahe. Gegen jede Religion in ihrer bestimmten
historischen Gestalt mit ihren offenbaren Mängeln bestehen Einwände. Aufklärung
versuchte, die wahre Religion dadurch zu finden, dass aus allen Religionen das Beste,
gleichsam als ein objektiver Bestand des Wahren, gesammelt wurde. Das nun ist durch-
aus unmöglich. Das Ergebnis ist nicht die eigentliche Wahrheit, gereinigt von histo-
risch zufälligen Irrungen, sondern eine Sammlung durch Aufklärung verwässerter Ab-
straktionen. Die Quelle dieses universalen Glaubens wurde in der Tat nur ein kritisch
messender Verstand. Ihm ging überall der Gehalt verloren. Das Ergreifende verschwand.
Triviale Allgemeinheiten blieben übrig.
Da aller gehaltvoller Glaube in seiner Erscheinung notwendig geschichtlich ist,
liegt seine Wahrheit nicht in einer Summe von Ergebnissen als Glaubenssätzen, son-
dern im einen Ursprung, der sich in mannigfachen Gestalten geschichtlich zur Er-
scheinung bringt. Wie viele Wege zu einem Mittelpunkt führen, so die vielen Religio-
nen zur einen Wahrheit. Diese ist aber nicht geradezu, sondern immer nur auf den
 
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