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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0536
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Grundsätze des Philosophierens

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Das letztere ist der Fall, sofern die Gedanklichkeit ein historisches Kleid ist, gebun-
den an die Gedankenmöglichkeiten der Zeit, in der sie gedacht wurden. Aus späteren
Zeitaltern deutet unsere aneignende Interpretation um. Die historische Erscheinung
des Gedankens, auch des Mythus, des Gleichnisses, wird gleichsam ausgewechselt, um
die darin liegende Wahrheit als gegenwärtige in zeitgemässem Kleide zu ergreifen, wo-
bei uns das zeitgemässe als das wahre erscheint. Solche Umdeutung ist nicht histori-
sche Erkenntnis. Sie kann sich nicht aus historischer Forschung begründen. Und doch
meint sie, dass Plato in ewiger Gegenwart zustimmen würde, weil die Aneignung tref-
fen will, was nicht in einmaligem Kleide, sondern in vielen Kleidern dasselbe ist, wenn
es auch ohne Kleid nicht fassbar wird.
Mit solch aneignender, umdeutender Interpretation kann sich das Philosophieren
auch den Mythen nahen, wie z.B. der Seelenwanderung und dem Karma, dem Para-
dies und Sündenfall, dem Opfertod und der Auferstehung Christi.
Umdeutung kann eigentliches Erfassen sein. Es ist[,] als ob eine ewige Philosophie
arbeite auch im Kleide sogar von Absichten, die die Philosophie verkehren. Wir beob-
achten dieses Philosophieren, das »trotzdem« geschieht, bei Descartes, noch mehr bei
Spinoza, sogar bei Kant. Ja es scheint geschichtlich unvermeidlich, dass die je gegen-
wärtige Helligkeit des Philosophierens sich in dem Ungenügen des faktischen Den-
kens der Vergangenheit wiederzuerkennen sucht, während von der Gegenwart her die
Absichten, bewussten Zielsetzungen, Thesen der Vergangenen oft zum Vordergrund
ihrer Erscheinung, zum Kleid gehören.
Eine unphilosophische Geschichtsschreibung hält sich nur an die Kleider, an die
bewussten Meinungen. Solche Historie hält sich für positiv, für allein historische For-
schung. Aber ihr entgeht, was faktisch war und in den Texten für den Verstehenden
indirekt zur Erscheinung kommt. Gerade dieses, was in den Denkbewegungen wirk-
lich geschah, ist aber das philosophisch Wesentliche.
Für zutreffende historische Auffassung aber bleibt es unerlässlich, den unmittelbar
in den Texten gemeinten Sinn nicht zu verwechseln mit dem wirklich geschehenen
Philosophieren, das mit später erworbenen Denkmitteln zur bewussten Auffassung
kommt.
3. Historische Gesamtaspekte469
Es gibt nicht die Philosophiegeschichte als System. Man kann nicht etwa das Ganze
der Philosophie gewinnen, indem man das Wahre aus allen Philosophien zusammen-
holt, in jeder den Irrtum fortlässt und nun die reine Wahrheit übrigbehält und besitzt
in der Gestalt historischer Zeitfolge. Nicht ein alle Philosophien überschauendes Wis-
sen ergreift das wahre Ganze; vielmehr liegt die Wahrheit in der universalen, unab-
schliessbaren Kommunikation mit allem wirklichen Philosophieren.
 
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