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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0537
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Grundsätze des Philosophierens

Aber das Ganze der Philosophiegeschichte ist doch wie ein einziger grosser Augen-
blick des Sichbewusstwerdens des Menschen. Dieser Augenblick ist zugleich die unend-
liche Diskussion, zeigt die Kräfte, die aufeinander stossen, die Fragen, die unlösbar schei-
nen, die hohen Werke und die Abgleitungen, tiefe Wahrheit und einen Wirbel des Irrens.
Im philosophiegeschichtlichen Wissen suchen wir das Schema eines Rahmens, in
dem die philosophischen Gedanken ihren historischen Ort haben. Solches Schema
bedeutet einen Totalaspekt. Es ist der weiteste Horizont zu gewinnen. Daher kann der
Rahmen im Ganzen nur universalgeschichtlich sein. Nur eine Weltgeschichte der Phi-
losophie zeigt, wie Philosophie historisch zur Erscheinung gekommen ist. Es ist zu se-
hen, wie der Mensch unter den verschiedensten Daseinsbedingungen, gesellschaftli-
chen und politischen Zuständen, persönlichen Situationen gedacht hat.
a. Geographisch-chronologischer Rahmen. - Der Rahmen des Ganzen ist äusser-
lich ein geographisch-chronologischer Entwurf, geordnet durch die Auffassung der
Achsenzeit der Weltgeschichte:
Geographisch getrennte, in sich selbständige Entwicklungen des Gedankens fin-
den in China, Indien und dem Abendland statt. Trotz gelegentlicher Querverbindun-
gen ist die Trennung dieser drei Welten so einschneidend, dass jede wesentlich aus sich
selbst begriffen werden muss. Die stärkste Einwirkung ist die des in Indien entstande-
nen Buddhismus auf China, vergleichbar der des im Osten des Abendlandes entstan-
denen Christentums auf das westliche Abendland.
In den drei Welten hat die Entwicklung eine analoge Kurve. Nach historisch schwer
aufhellbarer Vorgeschichte entstehen die Grundgedanken überall in der Achsenzeit
(800-200 v.Chr.). Dann folgt eine Auflösung und die Consolidierung der grossen Er-
lösungsreligionen, folgen immer wiederkehrende Erneuerungen, zusammenfassende,
methodisch-systematisch entworfene Systeme (Scholastik), besondere raffiniert oder
sublim ins Äusserste getriebene logische Spekulationen.
Diese synchronistische Typengliederung hat im Abendland ihre Besonderheit er-
stens durch eine viel stärkere, in Krisen und Katastrophen sich erneuernde Bewegung,
zweitens durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen und Völker, die die Gedanken zum
Ausdruck bringen, drittens durch die einzigartige Entwicklung der Wissenschaft. Die
Phasen sind: Die griechische Philosophie von den Vorsokratikern bis Aristoteles. - Die
Spätantike von den Stoikern, Epikureern und Skeptikern bis zu Plotin und Boethius. -
Die christliche Philosophie, im Altertum als Patristik, im Mittelalter als Scholastik bis
zu Suarez und in Neubegründungen in Luther und Calvin und seitdem im Epigonen-
tum bis heute. - Die neue Wissenschaft seit dem 15. [,] endgültig seit dem 17. Jahrhun-
dert. - Die neuen unabhängigen, wissenschaftsbezogenen Philosophien der europä-
ischen Nationen der Neuzeit.
b. Historisch-sociologischer Hintergrund. - Um den Philosophen zu verstehen,
muss man ihn in seiner Welt sehen. Was er sagt, ist in Vorstellungen und Motiven ge-
 
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