Grundsätze des Philosophierens
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bunden an die Sachen, die ihm in seiner Umwelt begegnen, an die Realitäten der so-
ciologischen Zustände und politischen Ereignisse, an die Sitten und Selbstverständ-
lichkeiten der ihn umgebenden Menschen. Um Philosophiegeschichte zu sehen, muss
man daher eine gewisse concrete Anschauung der Universalgeschichte sich erwerben.
Die Philosophie hat jederzeit ihre sociologische Realität. Jeder Denker hat seine Her-
kunft, seinen Ort in der Gesellschaft und im Staate. Woher einer kommt und wo er
steht, das bestimmt seine innere Verfassung, seine Erfahrungen und seine Wertschät-
zungen. Auch in der Losgerissenheit als Ausnahme, ausgeschlossen oder sich selber
ausschliessend, bleibt die sociologische Realität in der Weise des Herausgenommen-
seins. Es gibt kein ausserhalb im Dasein.
Wenn wir in historischer Betrachtung die Bezüge der Philosophen zu ihrer socio-
logischen Umwelt und ihrem sociologischen Ort erfassen, so bringt uns das indirekt
zur Selbsterkenntnis der eigenen realen Lage. Die Realität des räumlich-zeitlich Gegen-
wärtigen zwingt sich uns auf, als ob sie alle Realität sei, sich selber genüge. Wir sind
geneigt[,] unser Selbstbewusstsein mit dem Gegenwärtigen, der Macht, zu identifieie-
ren. Die Phantasie in der Vergegenwärtigung des anderen, fernen, historisch einmal
Gewesenen3 und des zukünftig Möglichen corrigiert diese uns blind machende Ge-
bundenheit. Wo ich stehe und was ich mit anderen bin, wird mir bewusst, wenn ich
die nicht gegenwärtigen Realitäten und Möglichkeiten kenne. Die Philosophie drängt
in das Allgegenwärtige aus der blossen Gegenwart hinaus. Aber gerade weil die socio-
logische Bestimmung für die Philosophie substantiell und inhaltlich nicht entschei-
dend ist, ist sociologische Erkenntnis wichtig, um die ständige Wirksamkeit des Socio-
logischen auf die Erscheinung des Philosophierens zu erblicken, und dadurch uns von
möglichen Täuschungen zu befreien. Wir gewinnen eine klare Haltung zur histori-
schen Erscheinung und der in ihr verborgenen Geschichtlichkeit.
Philosophierend überschreiten wir unsere historisch-sociologische Bindung und
treffen uns mit allem Denken, das überall dieses Überschreiten vollzogen hat. Aber es ist
ein grosser Unterschied, ob, in welchem Sinne und wie weit der Einzelne die historische
Bindung sich zum Bewusstsein bringt, wie er sich zu ihr verhält, ob er bejahend seine ge-
schichtliche Einsenkung vollzieht oder trotzend sich ihr gegenüberstellen möchte.
Für alles dieses ist ein concretes historisches Anschauen, Wissen und Vergleichen
das universale Medium des realen Bewusstwerdens.
c. Konstruktive Zusammenhänge aus je besonderen Gesichtspunkten. - Der geo-
graphisch-chronologische Rahmen der Philosophiegeschichte ist zwar ein äusserer[,]
aber für die historische Anschauung unerlässlicher. In ihm wird die Geschichte jedoch
nur hell, wenn die realen Zusammenhänge, die einmaligen Schritte, die Wiederholun-
gen, die originalen und die Massenerscheinungen, und wenn in umfassenden Verglei-
Gewesenen nach der Abschrift Gertrud Jaspers statt gewesenen im Ms.
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bunden an die Sachen, die ihm in seiner Umwelt begegnen, an die Realitäten der so-
ciologischen Zustände und politischen Ereignisse, an die Sitten und Selbstverständ-
lichkeiten der ihn umgebenden Menschen. Um Philosophiegeschichte zu sehen, muss
man daher eine gewisse concrete Anschauung der Universalgeschichte sich erwerben.
Die Philosophie hat jederzeit ihre sociologische Realität. Jeder Denker hat seine Her-
kunft, seinen Ort in der Gesellschaft und im Staate. Woher einer kommt und wo er
steht, das bestimmt seine innere Verfassung, seine Erfahrungen und seine Wertschät-
zungen. Auch in der Losgerissenheit als Ausnahme, ausgeschlossen oder sich selber
ausschliessend, bleibt die sociologische Realität in der Weise des Herausgenommen-
seins. Es gibt kein ausserhalb im Dasein.
Wenn wir in historischer Betrachtung die Bezüge der Philosophen zu ihrer socio-
logischen Umwelt und ihrem sociologischen Ort erfassen, so bringt uns das indirekt
zur Selbsterkenntnis der eigenen realen Lage. Die Realität des räumlich-zeitlich Gegen-
wärtigen zwingt sich uns auf, als ob sie alle Realität sei, sich selber genüge. Wir sind
geneigt[,] unser Selbstbewusstsein mit dem Gegenwärtigen, der Macht, zu identifieie-
ren. Die Phantasie in der Vergegenwärtigung des anderen, fernen, historisch einmal
Gewesenen3 und des zukünftig Möglichen corrigiert diese uns blind machende Ge-
bundenheit. Wo ich stehe und was ich mit anderen bin, wird mir bewusst, wenn ich
die nicht gegenwärtigen Realitäten und Möglichkeiten kenne. Die Philosophie drängt
in das Allgegenwärtige aus der blossen Gegenwart hinaus. Aber gerade weil die socio-
logische Bestimmung für die Philosophie substantiell und inhaltlich nicht entschei-
dend ist, ist sociologische Erkenntnis wichtig, um die ständige Wirksamkeit des Socio-
logischen auf die Erscheinung des Philosophierens zu erblicken, und dadurch uns von
möglichen Täuschungen zu befreien. Wir gewinnen eine klare Haltung zur histori-
schen Erscheinung und der in ihr verborgenen Geschichtlichkeit.
Philosophierend überschreiten wir unsere historisch-sociologische Bindung und
treffen uns mit allem Denken, das überall dieses Überschreiten vollzogen hat. Aber es ist
ein grosser Unterschied, ob, in welchem Sinne und wie weit der Einzelne die historische
Bindung sich zum Bewusstsein bringt, wie er sich zu ihr verhält, ob er bejahend seine ge-
schichtliche Einsenkung vollzieht oder trotzend sich ihr gegenüberstellen möchte.
Für alles dieses ist ein concretes historisches Anschauen, Wissen und Vergleichen
das universale Medium des realen Bewusstwerdens.
c. Konstruktive Zusammenhänge aus je besonderen Gesichtspunkten. - Der geo-
graphisch-chronologische Rahmen der Philosophiegeschichte ist zwar ein äusserer[,]
aber für die historische Anschauung unerlässlicher. In ihm wird die Geschichte jedoch
nur hell, wenn die realen Zusammenhänge, die einmaligen Schritte, die Wiederholun-
gen, die originalen und die Massenerscheinungen, und wenn in umfassenden Verglei-
Gewesenen nach der Abschrift Gertrud Jaspers statt gewesenen im Ms.