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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0539
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Grundsätze des Philosophierens

chen die Sinnbeziehungen auch zwischen dem, was sich historisch faktisch garnicht
begegnete, begriffen werden. Die geschichtliche Auffassung bringt in Communica-
tion auch das, was historisch garnicht in Communication stand, denn sie will die
Überlieferung in den Sinn eines einzigen Gesprächs verwandeln.
Dabei sind philosophische Voraussetzungen wirksam, die sich bei Auffassung der
Geschichte weitgehend bestätigen, und die, wo sie sich nicht zu bestätigen scheinen,
uns keine Ruhe lassen: Der Mensch ist überall Mensch. Was immer gedacht wurde, es
ist von Menschen gedacht in menschlichen Situationen. Es ist grundsätzlich ein sinn-
volles Verstehen allerseits möglich. Denkend arbeiten die Menschen an einem gemein-
samen Ganzen. Sie sind auf gemeinsame Ziele gerichtet, mögen diese unter sich auch
wiederum mehrfache und sehr abweichende und in der Verwirklichung sich gegensei-
tig ausschliessende sein, - noch im Ausschliessen sind sie sinnbezogen aufeinander.
Alle Menschen sind zwar als Dasein getrennt und zerstreut, leben aber gemeinsam im
Raum des Bewusstseins überhaupt, treffen sich im Raum des Geistes und treten als Exi-
stenz miteinander in mögliche Communication.
Psychologisch und sociologisch lässt sich sagen, dass alles überall möglich war oder
ist, dass es daher sinnvoll zu fragen sei, warum hier im Keime stecken blieb, was dort
sich entwickelte, warum hier zu fehlen scheint, was dort das Wesentliche des Lebens
ist, warum die Wege divergieren, nachdem im Anfang die grössere Verwandtschaft war
(wie in der Achsenzeit von Asien bis nach Europa), warum und worin die Wege dann
auch wieder convergieren.
Wo solche Fragen in historischer Untersuchung wirksam werden, muss ein be-
stimmter Untersuchungsgegenstand durch je besondere Gesichtspunkte gewonnen
sein. Man spricht von Grundfragen und Grundproblemen, von Entwürfen des Mensch-
seins, der Welt, des Seins im Ganzen; man unterscheidet Philosophie von Religion und
von Wissenschaften; man begreift bestimmte Kategorien und Methoden und erkennt
sie in Vermischungen und in ihrer reinen Wirksamkeit; man konstruiert metaphy-
sisch-speculative Positionen und befragt die wirklichen Gedankengebäude, wieweit
sie ihnen entsprechen; man fragt nach System und Systematik. Solche und andere Un-
terscheidungen werden jeweils an die historischen Tatbestände herangebracht und
aus ihnen herausgeholt. Wo dies geschieht, da können die Gesichtspunkte benutzt
werden, um bestimmte Fragen herauszugreifen und vergleichend durch die Universal-
geschichte zu verfolgen. In solcher Beschränkung der Gesichtspunkte und bei solcher
Weite ihrer Anwendung wird erst klar, was Philosophie eigentlich ist.
Ein Beispiel solcher besonderen Fragestellung ist etwa, was Wissenschaft sei, wie
sie sich entwickelt habe, wie Philosophie zu ihr sich verhalte, wo ihre grössten Schritte
getan worden sind, und wo sie umgangen wurde oder verschwunden ist. In einer sol-
chen konstruktiven Auffassung der geschichtlichen Entwicklung unter einem be-
 
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