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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0547
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Grundsätze des Philosophierens

noch voller Rätsel. Es ist ein Missbrauch, an solchen Fragmenten eigenes modernes
Philosophieren zu entfalten.
Die Werke des Plato, Aristoteles, Plotin sind als die einzigen aus der griechischen
Philosophie einigermassen vollständig. Diese drei stehen an erster Stelle für alles Stu-
dium der alten Philosophie.
Plato lehrt die ewigen philosophischen Grunderfahrungen. In die Bewegung sei-
nes Denkens ist der ganze Reichtum der vorhergehenden griechischen Philosophie
aufgenommen. Er steht in der radikalen Erschütterung seines Zeitalters an der Grenze
der Zeiten. In unabhängigster Offenheit erblickt er das Denkbare. Er erreicht die klar-
ste Mitteilung seiner Gedankenbewegungen, aber so, dass das Geheimnis des Philoso-
phierens Sprache wird, während es als Geheimnis ständig gegenwärtig bleibt. Alles
Stoffliche ist bei ihm eingeschmolzen. Der Vollzug des Transcendierens ist das allein
Wesentliche. Plato hat den Gipfel erklommen, über den, so scheint es, der Mensch im
Denken nicht hinauskommt. Von ihm sind bis heute die tiefsten Antriebe des Philo-
sophierens ausgegangen. Er ist jederzeit missverstanden worden - denn er bringt keine
lernbare Lehre - und muss immer wieder neu erworben werden. Im Plato-Studium -
wie im Kant-Studium - lernt man nicht eine feststehende Sache, sondern kommt zum
eigenen Philosophieren. Der Denker zeigt sich selbst darin, wie er Plato versteht.
Aus Aristoteles lernt man die Kategorien, die von ihm her das gesamte abendlän-
dische Denken beherrschen. Er hat die Sprache (die Terminologie) des Philosophie-
rens bestimmt, sei es[,] dass mit ihm oder gegen ihn oder in Überwindung dieser gan-
zen Ebene des Philosophierens gedacht wird.
Plotin benutzt die gesamte Überlieferung der antiken Philosophie als Mittel, eine
wundersame Metaphysik auszusprechen, die, in ihrer Stimmung original, seitdem als
die eigentliche Metaphysik durch die Zeiten geht. Die mystische Ruhe ist in der Mu-
sik einer Speculation mitteilbar geworden, die unüberholbar bleibt und in irgend ei-
ner Weise widerklingt, wo immer seitdem metaphysisch gedacht wurde.
Die Stoiker, Epikureer und Skeptiker, dazu Platoniker und Aristoteliker (die Anhän-
ger der neueren Akademie und die Peripatetiker) schaffen eine allgemeine Philosophie
der gebildeten Schichten des späteren Altertums, für die auch Cicero und Plutarch
schrieben. Bei aller Gegensätzlichkeit rationaler Positionen und trotz ständiger gegen-
seitiger Polemik ist hier eine gemeinsame Welt. An ihr allseitig teilzunehmen [,] macht
zwar den Eklektiker, macht aber auch die specifisch begrenzte Grundhaltung dieser
antiken Jahrhunderte, die persönliche Grösse, die Continuität des im Wesentlichen
sich nur Wiederholenden, das eigentümlich Fertige und Unfruchtbare, aber auch das
allgemein Verständliche. Hier ist der Boden der bis heute gängigen Allerweltsphiloso-
phie. Die letzte hinreissende Gestalt ist Boethius, dessen consolatio philosophiae ver-
möge seiner Stimmung, Schönheit und Echtheit zu den Grundbüchern des philoso-
phierenden Menschen gehört.
 
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