Grundsätze des Philosophierens
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Schichten philosophischer Gemeinsamkeit in Bildung, Begrifflichkeit, Sprechweise
und Haltung sind in der Folge die Kleriker des Mittelalters, die Humanisten seit der Re-
naissance, schwächer schon die speculativ idealistische Atmosphäre der deutschen
Philosophie in der Bildungswelt zwischen 1770 und 1850 von Riga bis Zürich, von Hol-
land bis Wien. Mit diesen Schichten sich zu beschäftigen [,] ist kulturgeschichtlich und
sociologisch interessant. Es ist wichtig, den Abstand und Unterschied von den gros-
sen philosophischen Schöpfungen zu dieser sich verallgemeinernden Form des Den-
kens zu erfassen. Insbesondere ist der Humanismus wichtig, weil der ihm eigene Ur-
sprung nicht eine grosse Philosophie, sondern eine geistige Haltung der Überlieferung
und Aneignung, der Unbefangenheit des Verstehens und eine menschliche Freiheit
ist, ohne die unser abendländisches Dasein unmöglich wäre. Der Humanismus (in der
Renaissance neu bewusst geworden, in Erasmus, Marsilius Ficinus noch heute lohnend
kennen zu lernen) geht durch alle Zeiten, seit die Römer im Zeitalter der Scipionen un-
ter griechischem Einfluss ihn zuerst verwirklicht haben. In unseren Zeiten ist er schwä-
cher geworden bis zur Gefahr seines Unwirksamwerdens. Es wäre ein Verhängnis von
unabsehbaren geistigen und menschlichen Folgen, wenn er verschwände.
Zur christlichen Philosophie:
Unter den Kirchenvätern steht in überragender Grösse Augustin. Mit dem Studium sei-
ner Werke gewinnt man das gesamte christliche Philosophieren. Hier finden sich die
zahlreichen unvergesslichen Formulierungen, in denen die Innerlichkeit Sprache ge-
winnt, welche in der antiken Philosophie in dieser hohen Reflektiertheit und Leiden-
schaft noch fehlt. Das unermesslich reiche Werk ist voller Wiederholungen, rhetori-
scher Breiten, im Ganzen ohne Schönheit, im einzelnen von vollendeter Knappheit
und Kraft tiefer Wahrheiten. Man lernt seine Gegner aus seinen Citaten und Refera-
ten in der Auseinandersetzung mit ihnen kennen. Er ist mit seinen Werken der uner-
schöpfliche Brunnen, aus dem bis heute alles christliche Denken schöpft, das die Seele
in ihren Tiefen sucht.
Scotus Eriugenaa erdenkt ein Gebäude des Seins von Gott, Natur und Mensch in
neuplatonischen Kategorien mit dialektischer Freiheit der Entwicklung. Er bringt eine
neue Stimmung selbstbewusster Weltoffenheit. Gelehrt, der griechischen Sprache
kundig, Übersetzer des Dionysius Areopagita, entwirft er mit überliefertem Begriffs-
material sein grosszügiges, in der Haltung original wirkendes System. Er erblickt die
Gottnatur und wird Neubegründer einer speculativen Mystik, nachwirkend bis in die
Gegenwart? Er steht einsam in philosophieferner Zeit. Sein Werk ist das Bildungspro-
a Eriugena nach der Abschrift Gertrud Jaspers statt Erigena im Ms.
t> Er bringt eine neue Stimmung selbstbewusster Weltoffenheit. Gelehrt, der griechischen Sprache
kundig, Übersetzer des Dionysius Areopagita, entwirft er mit überliefertem Begriffsmaterial sein
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Schichten philosophischer Gemeinsamkeit in Bildung, Begrifflichkeit, Sprechweise
und Haltung sind in der Folge die Kleriker des Mittelalters, die Humanisten seit der Re-
naissance, schwächer schon die speculativ idealistische Atmosphäre der deutschen
Philosophie in der Bildungswelt zwischen 1770 und 1850 von Riga bis Zürich, von Hol-
land bis Wien. Mit diesen Schichten sich zu beschäftigen [,] ist kulturgeschichtlich und
sociologisch interessant. Es ist wichtig, den Abstand und Unterschied von den gros-
sen philosophischen Schöpfungen zu dieser sich verallgemeinernden Form des Den-
kens zu erfassen. Insbesondere ist der Humanismus wichtig, weil der ihm eigene Ur-
sprung nicht eine grosse Philosophie, sondern eine geistige Haltung der Überlieferung
und Aneignung, der Unbefangenheit des Verstehens und eine menschliche Freiheit
ist, ohne die unser abendländisches Dasein unmöglich wäre. Der Humanismus (in der
Renaissance neu bewusst geworden, in Erasmus, Marsilius Ficinus noch heute lohnend
kennen zu lernen) geht durch alle Zeiten, seit die Römer im Zeitalter der Scipionen un-
ter griechischem Einfluss ihn zuerst verwirklicht haben. In unseren Zeiten ist er schwä-
cher geworden bis zur Gefahr seines Unwirksamwerdens. Es wäre ein Verhängnis von
unabsehbaren geistigen und menschlichen Folgen, wenn er verschwände.
Zur christlichen Philosophie:
Unter den Kirchenvätern steht in überragender Grösse Augustin. Mit dem Studium sei-
ner Werke gewinnt man das gesamte christliche Philosophieren. Hier finden sich die
zahlreichen unvergesslichen Formulierungen, in denen die Innerlichkeit Sprache ge-
winnt, welche in der antiken Philosophie in dieser hohen Reflektiertheit und Leiden-
schaft noch fehlt. Das unermesslich reiche Werk ist voller Wiederholungen, rhetori-
scher Breiten, im Ganzen ohne Schönheit, im einzelnen von vollendeter Knappheit
und Kraft tiefer Wahrheiten. Man lernt seine Gegner aus seinen Citaten und Refera-
ten in der Auseinandersetzung mit ihnen kennen. Er ist mit seinen Werken der uner-
schöpfliche Brunnen, aus dem bis heute alles christliche Denken schöpft, das die Seele
in ihren Tiefen sucht.
Scotus Eriugenaa erdenkt ein Gebäude des Seins von Gott, Natur und Mensch in
neuplatonischen Kategorien mit dialektischer Freiheit der Entwicklung. Er bringt eine
neue Stimmung selbstbewusster Weltoffenheit. Gelehrt, der griechischen Sprache
kundig, Übersetzer des Dionysius Areopagita, entwirft er mit überliefertem Begriffs-
material sein grosszügiges, in der Haltung original wirkendes System. Er erblickt die
Gottnatur und wird Neubegründer einer speculativen Mystik, nachwirkend bis in die
Gegenwart? Er steht einsam in philosophieferner Zeit. Sein Werk ist das Bildungspro-
a Eriugena nach der Abschrift Gertrud Jaspers statt Erigena im Ms.
t> Er bringt eine neue Stimmung selbstbewusster Weltoffenheit. Gelehrt, der griechischen Sprache
kundig, Übersetzer des Dionysius Areopagita, entwirft er mit überliefertem Begriffsmaterial sein