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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0557
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Grundsätze des Philosophierens

thode, die Heranziehung der Kunst zur Mitteilung der philosophischen Wahrheit,
ohne Einbusse der Straffheit und Praegung des Gedankens. Bei Kant die grösste Red-
lichkeit, das Verlässliche in jedem Satz, die schönste Klarheit, aber das Masslose in der
Gestalt der Werke, der Mangel der letzten Form. Bei Hegel das Unverlässliche im Sich-
gestatten, auch vorbei zu denken, dafür der Reichtum der Gehalte, das Schöpfertum,
das die Tiefe an Gehalten zeigt, nicht im eigenen Philosophieren verwirklicht. Dieses
ist vielmehr mit Gewalt und Schwindel versetzt, hat die Tendenz zur Scholastik dog-
matischer Schemata und zu aesthetischer Betrachtung.
Die philosophischen Werke und die Philosophen sind ausserordentlich3 verschiede-
nen Rangs und verschiedener Art. Es ist ein philosophisches Lebensschicksal, ob ich mich
in der Jugend dem Studium eines der grossen Philosophen und welchem anvertraue.
Man darf sagen, dass in einem der grossen Werke alles liege. Es ist bindend, an ei-
nem der Grossen sich gleichsam hinaufzuarbeiten in das Reich der Philosophie. Durch
gründliches Eindringen in ein hohes Lebenswerk gewinne ich die Mitte, von der und
zu der hin sich alles andere erleuchtet. Im Studium dieses Werkes wird alles andere her-
angezogen. Im Zusammenhang damit gewinnt man gleichsam eine geographische
Orientierung über die gesamte Philosophiegeschichte, lernt äusserlich in ihr Bescheid
zu wissen, lässt durch Stichproben von Lesen der Originaltexte Eindrücke entstehen,
merkt oder ahnt, was sonst noch da ist. Infolge der uneingeschränkten Gründlichkeit
an einer Stelle bewahrt man die Selbstkritik über das Mass des Wissens, das man abge-
stuft von den philosophischen Gedankenbildungen sich erwirbt.
Dem jungen Menschen möchte wohl ein Ratschlag erwünscht sein, welchen Phi-
losophen er wählen solle.482 Diese Wahl aber muss ein jeder selber treffen. Man kann
ihm nur zeigen und ihn aufmerksam machen. Die Wahl ist eine Wesensentscheidung
und gleichsamb ein Bekenntnis. Sie erfolgt vielleicht nach vielen tastenden Versuchen.
Sie kann in der Folge der Jahre ihre Erweiterung erfahren. Trotzdem gibt es Ratschläge.
Ein alter Rat ist es, man solle Plato und Kant studieren, damit sei alles Wesentliche er-
reicht.
Keine Wahl ist es, sich von fesselnder Lektüre hinreissen zu lassen, so etwa von
Schopenhauer oder Nietzsche. Wahl bedeutet Studium mit allen zur Verfügung ste-
henden Mitteln. Damit bedeutet sie ein Hineinwachsen in die gesamte Geschichte der
Philosophie von einer ihrer grossen Erscheinungen her. Ein Werk, das nicht auf die-
sen Weg führt, ist eine unvorteilhafte Wahl, obgleich schliesslich jedes philosophi-
sche Werk bei wirklichem Studium irgendwie ergiebig werden muss.
Die Wahl eines grossen Philosophen zum Studium seiner Werke bedeutet also nicht
Beschränkung auf ihn. Im Gegenteil ist beim Studium eines Grossen zugleich auch das

a ausserordentlich nach der Abschrift Gertrud Jaspers statt ausserordentlichen im Ms.
b gleichsam im Ms. Einf.
 
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