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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0558
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Grundsätze des Philosophierens

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äusserste Andere möglichst frühzeitig ins Auge zu fassen. Befangenheit ist die Folge
der Beschränkung auf einen, auch auf den unbefangensten Philosophen. Nicht nur
gilt im Philosophieren keine Menschenvergötterung, keine Steigerung des Einen zum
Einzigen, kein ausschliessender Meister. Vielmehr ist der Sinn des Philosophierens das
Offenwerden für die Menschheit im Ganzen, nicht als die nivellierte, abstrakte
Menschheit überhaupt, sondern als ihre Mannigfaltigkeit in den hohen Verwirkli-
chungen.
c. Darstellungen.483 - Darstellungen der Philosophiegeschichte haben sehr ver-
schiedene Ziele. Sammlungen der gesamten Überlieferung, einfache Angaben der vor-
handenen Texte, der biographischen Daten der Philosophen, der sociologischen Rea-
litäten, der realen Zusammenhänge des Sichbekanntwerdens, der Diskussion, der
nachweisbaren Entfaltungen oder Entwicklungen in fassbaren Schritten. Weiter die
referierende Darstellung der Inhalte der Werke, Konstruktion der in ihnen wirksamen
Motive, Systematiken, Methoden, Ziele. Dann Charakteristik des Geistes oder der Prin-
cipien einzelner Philosophen und ganzer Zeitalter. Schliesslich Auffassung des histo-
rischen Gesamtbildes bis zur Weltgeschichte der Philosophie im Ganzen.
Auffassung der Philosophiegeschichte geht von philologischer Einsicht bis zum
Philosophieren. Die gründlichste, wahrste und tiefste historische Auffassung ist not-
wendig zugleich eigenes Philosophieren. Gegenwärtige Philosophie nährt sich aus der
Geschichte und erblickt sich in der Geschichte.
Hegel ist der Philosoph, der zuerst, bewusst und in umfassender Weite die gesamte
Philosophiegeschichte philosophisch aneignete. Seine Philosophiegeschichte ist die-
ses Sinnes wegen bis heute die grossartigste Leistung. Aber sie ist auch ein Verfahren,
das vermöge der eigenen Hegelschen Principien mit der tiefdringenden Auffassung
zugleich tötete. Alle vergangenen Philosophien wirken im Hegelschen Licht einen Au-
genblick wie in einem wunderbar erleuchtenden Scheinwerfer; dann aber muss man
plötzlich erkennen, dass Hegelsches Denken allen vergangenen Philosophien gleich-
sam das Herz ausschneidet und den Rest als Leichnam in den ungeheuren historischen
Friedhof der Geschichte einsargt. Hegel ist mit allem Vergangenen fertig, weil er es zu
übersehen glaubte. Sein verstehendes Eindringen ist nicht unbefangenes Aufschlies-
sen, sondern vernichtende Operation, nicht bleibendes Fragen, sondern unterwerfen-
des Erobern, nicht Mitleben, sondern Beherrschen3.
Es ist zu raten, stets mehrere Darstellungen der Geschichte nebeneinander zu le-
sen, um von vornherein davor geschützt zu sein, einer Auffassung als einer vermeint-
lich selbstverständlichen zu verfallen. Liest man nur eine Darstellung, so zwingt sich
ihr Schema unwillkürlich auf.

a statt nicht Mitleben, sondern Beherrschen im Ms. und in der Abschrift Gertrud Jaspers nicht mitle-
ben, sondern beherrschen
 
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