LXXXIV
Einleitung des Herausgebers
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die etwas leichtfertige Rede vom
Publikationsverbot nicht auf lange Sicht den Blick der Forschung verstellt hat. Wie
die in diesem Band versammelten Dokumente und Korrespondenzen nahelegen,
war der Handlungsspielraum für Jaspers nach 1938 größer, als die Rede vom Publi-
kationsverbot vermuten lässt. Im Ämterchaos des NS-Regimes verwischten sich die
Grenzen klarer Zuständigkeiten, so dass Jaspers lange unbehelligt blieb. Mit der Pub-
likation seiner Texte waren neben der Reichsschrifttumskammer der Reichsverband
Deutscher Schriftsteller, das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propa-
ganda, das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung sowie
das Hauptamt Wissenschaft der Dienststelle Rosenberg befasst. Doch obwohl etwa
die Reichsschrifttumskammer und der Reichsverband Deutscher Schriftsteller dem
Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda eingegliedert waren, kam
es offensichtlich zu keinem Informationsaustausch. Jaspers verstand es, diese Lücken
im System zu nutzen. Er entwickelte im Umgang mit den Behörden allmählich ein
großes Geschick. Später hat er diesen Punkt gelegentlich angedeutet.298 Gleichwohl
ist er kaum untersucht.
Außerdem hat die Rede vom Publikationsverbot ab 1938 dazu geführt, die Bedeu-
tung der ein Jahr zuvor erfolgten Versetzung in den Ruhestand zu überschatten. Beide
Ereignisse werden gewöhnlich so gelesen, als sei die Entfernung aus dem Amt der
Anfang einer Entwicklung, die dann im Publikationsverbot, sozusagen als finalem
Schlag, ihren Abschluss gefunden habe. Nun erst, so die gängige Lesart, war Jaspers
jeder öffentlichen Wirkung beraubt. Jaspers selbst gewichtete jedoch anders. Die Ver-
setzung in den Ruhestand wog für ihn schwerer als die Verhinderung seiner Publikati-
onen. Unmittelbar nachdem ihm der Rektor der Universität Heidelberg die Entschei-
dung des Reichsstatthalters vom 19. Juni 1937 übermittelt hatte, dass er gemäß § 6 des
Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zum 1. Oktober 1937 in den
Ruhestand versetzt werde,299 schrieb er an seine Eltern: »Es schmerzt mich sehr, liebe
Eltern, Euch diesen Abschluss meiner öffentlichen Laufbahn mitteilen zu müssen,
nachdem ich eigentlich ein langes Leben Euch nur Erfolge mitteilen konnte. Meine
Arbeit kann ich für mich fortsetzen. Ob ich noch gedruckt werde, muss ich sehen.«300
Keine Rede davon, dass er nun, solange es noch möglich war, seine ganze Kraft auf
die Publikation von Texten verwenden wollte, um auf diese Weise seine öffentliche
Wirkung fortzusetzen. Was das betraf, war die Entfernung aus dem Amt nicht der An-
fang vom Ende, sondern das Ende selbst: »Dass ich auf die Jugend verzichten muss, ist
298 Vgl. K. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 75.
299 Vgl. die Dokumente in der Personalakte Jaspers, Karl 1913-März 1945, UAH, PA 4369, sowie D.
Mußgnug: Die vertriebenen Heidelberger Dozenten, 98-100.
300 K. Jaspers an die Eltern, 28. Juni 1937, DLA, A: Jaspers.
Einleitung des Herausgebers
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die etwas leichtfertige Rede vom
Publikationsverbot nicht auf lange Sicht den Blick der Forschung verstellt hat. Wie
die in diesem Band versammelten Dokumente und Korrespondenzen nahelegen,
war der Handlungsspielraum für Jaspers nach 1938 größer, als die Rede vom Publi-
kationsverbot vermuten lässt. Im Ämterchaos des NS-Regimes verwischten sich die
Grenzen klarer Zuständigkeiten, so dass Jaspers lange unbehelligt blieb. Mit der Pub-
likation seiner Texte waren neben der Reichsschrifttumskammer der Reichsverband
Deutscher Schriftsteller, das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propa-
ganda, das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung sowie
das Hauptamt Wissenschaft der Dienststelle Rosenberg befasst. Doch obwohl etwa
die Reichsschrifttumskammer und der Reichsverband Deutscher Schriftsteller dem
Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda eingegliedert waren, kam
es offensichtlich zu keinem Informationsaustausch. Jaspers verstand es, diese Lücken
im System zu nutzen. Er entwickelte im Umgang mit den Behörden allmählich ein
großes Geschick. Später hat er diesen Punkt gelegentlich angedeutet.298 Gleichwohl
ist er kaum untersucht.
Außerdem hat die Rede vom Publikationsverbot ab 1938 dazu geführt, die Bedeu-
tung der ein Jahr zuvor erfolgten Versetzung in den Ruhestand zu überschatten. Beide
Ereignisse werden gewöhnlich so gelesen, als sei die Entfernung aus dem Amt der
Anfang einer Entwicklung, die dann im Publikationsverbot, sozusagen als finalem
Schlag, ihren Abschluss gefunden habe. Nun erst, so die gängige Lesart, war Jaspers
jeder öffentlichen Wirkung beraubt. Jaspers selbst gewichtete jedoch anders. Die Ver-
setzung in den Ruhestand wog für ihn schwerer als die Verhinderung seiner Publikati-
onen. Unmittelbar nachdem ihm der Rektor der Universität Heidelberg die Entschei-
dung des Reichsstatthalters vom 19. Juni 1937 übermittelt hatte, dass er gemäß § 6 des
Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zum 1. Oktober 1937 in den
Ruhestand versetzt werde,299 schrieb er an seine Eltern: »Es schmerzt mich sehr, liebe
Eltern, Euch diesen Abschluss meiner öffentlichen Laufbahn mitteilen zu müssen,
nachdem ich eigentlich ein langes Leben Euch nur Erfolge mitteilen konnte. Meine
Arbeit kann ich für mich fortsetzen. Ob ich noch gedruckt werde, muss ich sehen.«300
Keine Rede davon, dass er nun, solange es noch möglich war, seine ganze Kraft auf
die Publikation von Texten verwenden wollte, um auf diese Weise seine öffentliche
Wirkung fortzusetzen. Was das betraf, war die Entfernung aus dem Amt nicht der An-
fang vom Ende, sondern das Ende selbst: »Dass ich auf die Jugend verzichten muss, ist
298 Vgl. K. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 75.
299 Vgl. die Dokumente in der Personalakte Jaspers, Karl 1913-März 1945, UAH, PA 4369, sowie D.
Mußgnug: Die vertriebenen Heidelberger Dozenten, 98-100.
300 K. Jaspers an die Eltern, 28. Juni 1937, DLA, A: Jaspers.