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Karl-Joachim Hölkeskamp
rung haltbar sind. Zunächst muss festgehalten werden, dass die Stadt ein ,Text‘ war,
welcher der Deutung und Sinngebung bedurfte - zumindest gilt das für jene Orte und
Monumente der Frühzeit, die über keine eigenständige und autonome „Erinnerungs-
veranlassungskapazität“ sui generis verfügten:67 Orte wie die Hütte des Romulus auf
dem Palatin, der geheimnisvolle lacus Curtius und die Quelle der luturna und nicht
zuletzt auch die erwähnten Herakles/Hercules-Heiligtümer mussten geradezu nach
Deutung schreien - einer Deutung in Gestalt von verbindlichen und damit identitäts-
stiftenden und -absichernden Interpretationen.
Aber es gilt sicherlich nicht in gleichem Maße für die jüngeren, ,historischen4
Denkmäler: die rostra, die columna Duilia mit ihrer Inschrift, die neuen ex manu-
biis gestifteten Tempel und nicht zuletzt deren Ausstattung mit Bildern, Statuen und
Beuteweihungen. Deren ,Erinnerungsveranlassungskapazität4 dürfte vielmehr einer-
seits robust genug gewesen sein und wurde andererseits durch einen im Wortsinne
,Ross und Reiter4 eindeutig identifizierenden ,epigraphic habit4 noch gestärkt, so dass
diese monumentalen Anker der Selbstvergewisserung durch Erinnerung auf solche
Deutungen nicht angewiesen waren.
Gerade in der erwähnten Führungs- und Legitimitätskrise der ersten Jahre des
zweiten punischen Krieges ist allerdings mit einer deutlichen Steigerung des Bedarfs
an Sinnstiftung und Selbstvergewisserung durch Selbstverortung in den eigenen my-
thischen und historischen Traditionen zu rechnen - und hier leistete das Werk des
Fabius Pictor zwei wichtige, miteinander eng verbundene und aufeinander bezogene
Hilfestellungen: Die breite ktisis des Fabius Pictor war zunächst ein - durchaus erfolg-
reicher - Versuch, die Ursprünge und Anfänge Roms, die diesbezüglichen mündlichen
Traditionen und die monumentalen Zeugen dieser fernen Vergangenheit (ob sie nun
echt oder erst später produziert waren) in einen (im doppelten Sinne des Begriffs)
eben sinn-vollen Zusammenhang zu bringen. Vor allem aber stiftete Pictor durch eine
Innovation geradezu einen Überschuss an mythhistorisch fundamentierter kollekti-
ver Selbstvergewisserung, indem er eben durch Geschichtsschreibung ein Narrativ der
sinnfälligen und wiederum sinn-vollen Kontinuität von den Anfängen bis in die Ge-
genwart, von Romulus bis zum Cunctator, schuf- das hat selbst der Pictor-kritische
Dieter Timpe nicht geleugnet, der zumindest „einen für Rom originellen Entschluss“
sehen will: „Es war noch niemandem eingefallen, in einem Buch zugleich ausführlich
von der Wölfin und von Fabius Cunctator zu erzählen.“68 Darüber muss man noch hi-
nausgehen: So hat Hans Beck zu Recht betont, dass Pictor seine „aus ganz verschiede-
nen Erinnerungsbeständen“ - von den Familienarchiven bis zur oral tradition - „kons-
tituierte Gesamtgeschichte Roms“ eben nicht als „bloße Addition solcher zersplitterter
Episoden und Streiflichter“ wie die oben erwähnten Erzählungen über Taten und Tra-
gödien seiner gens angelegt hat, sondern als „die Geschichte eines Kollektivs“.69
67 Begriff nach Borsdorf/Grütter (1999), S. 5. Vgl. auch Assmann (1988), S. 12 und passim-, Korff (2002),
S. 142-144 und passim.
68 Timpe (1972/2007), S. 170.
69 Beck (2003), S. 87; vgl. auch Walter (2001), S. 261-272; (2004), S. 232-233, 246-247.
Karl-Joachim Hölkeskamp
rung haltbar sind. Zunächst muss festgehalten werden, dass die Stadt ein ,Text‘ war,
welcher der Deutung und Sinngebung bedurfte - zumindest gilt das für jene Orte und
Monumente der Frühzeit, die über keine eigenständige und autonome „Erinnerungs-
veranlassungskapazität“ sui generis verfügten:67 Orte wie die Hütte des Romulus auf
dem Palatin, der geheimnisvolle lacus Curtius und die Quelle der luturna und nicht
zuletzt auch die erwähnten Herakles/Hercules-Heiligtümer mussten geradezu nach
Deutung schreien - einer Deutung in Gestalt von verbindlichen und damit identitäts-
stiftenden und -absichernden Interpretationen.
Aber es gilt sicherlich nicht in gleichem Maße für die jüngeren, ,historischen4
Denkmäler: die rostra, die columna Duilia mit ihrer Inschrift, die neuen ex manu-
biis gestifteten Tempel und nicht zuletzt deren Ausstattung mit Bildern, Statuen und
Beuteweihungen. Deren ,Erinnerungsveranlassungskapazität4 dürfte vielmehr einer-
seits robust genug gewesen sein und wurde andererseits durch einen im Wortsinne
,Ross und Reiter4 eindeutig identifizierenden ,epigraphic habit4 noch gestärkt, so dass
diese monumentalen Anker der Selbstvergewisserung durch Erinnerung auf solche
Deutungen nicht angewiesen waren.
Gerade in der erwähnten Führungs- und Legitimitätskrise der ersten Jahre des
zweiten punischen Krieges ist allerdings mit einer deutlichen Steigerung des Bedarfs
an Sinnstiftung und Selbstvergewisserung durch Selbstverortung in den eigenen my-
thischen und historischen Traditionen zu rechnen - und hier leistete das Werk des
Fabius Pictor zwei wichtige, miteinander eng verbundene und aufeinander bezogene
Hilfestellungen: Die breite ktisis des Fabius Pictor war zunächst ein - durchaus erfolg-
reicher - Versuch, die Ursprünge und Anfänge Roms, die diesbezüglichen mündlichen
Traditionen und die monumentalen Zeugen dieser fernen Vergangenheit (ob sie nun
echt oder erst später produziert waren) in einen (im doppelten Sinne des Begriffs)
eben sinn-vollen Zusammenhang zu bringen. Vor allem aber stiftete Pictor durch eine
Innovation geradezu einen Überschuss an mythhistorisch fundamentierter kollekti-
ver Selbstvergewisserung, indem er eben durch Geschichtsschreibung ein Narrativ der
sinnfälligen und wiederum sinn-vollen Kontinuität von den Anfängen bis in die Ge-
genwart, von Romulus bis zum Cunctator, schuf- das hat selbst der Pictor-kritische
Dieter Timpe nicht geleugnet, der zumindest „einen für Rom originellen Entschluss“
sehen will: „Es war noch niemandem eingefallen, in einem Buch zugleich ausführlich
von der Wölfin und von Fabius Cunctator zu erzählen.“68 Darüber muss man noch hi-
nausgehen: So hat Hans Beck zu Recht betont, dass Pictor seine „aus ganz verschiede-
nen Erinnerungsbeständen“ - von den Familienarchiven bis zur oral tradition - „kons-
tituierte Gesamtgeschichte Roms“ eben nicht als „bloße Addition solcher zersplitterter
Episoden und Streiflichter“ wie die oben erwähnten Erzählungen über Taten und Tra-
gödien seiner gens angelegt hat, sondern als „die Geschichte eines Kollektivs“.69
67 Begriff nach Borsdorf/Grütter (1999), S. 5. Vgl. auch Assmann (1988), S. 12 und passim-, Korff (2002),
S. 142-144 und passim.
68 Timpe (1972/2007), S. 170.
69 Beck (2003), S. 87; vgl. auch Walter (2001), S. 261-272; (2004), S. 232-233, 246-247.