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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0026
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Überblickskommentar 5

Der „Sokratismus“ ist ihm nur ein anderes Wort für eine alles durchdringende
Rationalität, welche die natürlichen Instinkte erstickt und deshalb lebens-
feindlich wirkt. Insofern gilt ihm dieser Sokratismus als „ein Zeichen des Nie-
dergangs“ (12, 26). Hier verschmilzt, wie schon in der Tragödienschrift, die
Rousseausche Zivilisationskritik mit der von Herder als Kennzeichen sklero-
tisch-steriler Spätzeiten diagnostizierten Logifizierung sämtlicher Lebensberei-
che. Im späten Rückblick konzentriert sich N.s Zivilisationskritik auf einen Sek-
tor, den das 15. Kapitel der Tragödienschrift ins Blickfeld rückte: auf die
Wissenschaft. Die Schlußpartie des 1. Kapitels des Rückblicks läuft auf eine
grundsätzliche Wissenschaftskritik vom Standpunkt des „Lebens“ zu, und am
Anfang des 2. Kapitels betont Nietzsche, daß er das Problem, das er im
Anschluß an die frühere Schrift zunächst als Sokratismus bezeichnete, „heute“
als Problem der Wissenschaft bezeichnen würde (13, 9 f.). Das war es allerdings
auch schon in der Tragödienschrift (vgl. GT 15, KSA 1, 99).
N. ist in der späten Retrospektive darauf bedacht, die antikisierenden Ein-
kleidungen der Frühschrift, so die Rede vom Sokratismus und vom Dionysi-
schen, zwar nicht gänzlich abzustreifen, aber doch auf einen begrifflichen Nen-
ner zu bringen. Im kritischen Hinblick auf die Wissenschaftsgläubigkeit und
den Wissenschaftsoptimismus des späten 19. Jahrhunderts versucht er, ohne
gelehrtes Mimikry ,eigentlich4 zu sprechen. Indessen bezeichnet er zugleich
das „Dionysische“ als ein „Problem“, dessen wissenschaftliche (!) Lösung er
auf eine ungewisse Zukunft verschiebt („bleibt doch auch heute noch für den
Philologen auf diesem Gebiete beinahe Alles zu entdecken und auszugraben“;
15, 12-14), und seine eigenen Aussagen hierzu bringt er, mystifizierend und
herausfordernd, in eine suspensive Frageform. Im Schlußsatz des 3. Kapitels
verschiebt er dieses „Problem“ auf die Ebene einer Metareflexion („Vor allem
das Problem, dass hier ein Problem vorliegt“; 15, 14) und auf die These, die
Erkenntnis des „Dionysischen“ bei den Griechen sei noch nicht gelungen („und
dass die Griechen, so lange wir keine Antwort auf die Frage ,was ist diony-
sisch?4 haben, nach wie vor gänzlich unerkannt und unvorstellbar sind ...“; 15,
15-17). Sofort im ersten Satz des unmittelbar anschließenden 4. Kapitels: „Ja,
was ist dionysisch?“ wird die nicht mehr ins Feld historischer Erkenntnis, son-
dern allenfalls noch in dasjenige der Psychologie gehörende Schwierigkeit
greifbar. Denn N. fährt fort: „In diesem Buche [in GT] steht eine Antwort
darauf, - ein ,Wissender4 redet da, der Eingeweihte und Jünger seines Gottes.
Vielleicht würde ich jetzt vorsichtiger und weniger beredt von einer so schwe-
ren psychologischen Frage reden ...“ (15, 19-23). Immer von Neuem also eine
„Frage“, ja eine unabschließbare Reihe von Fragen, wie sich alsbald zeigt,
denn von nun ab sind sämtliche Sätze des 4. Kapitels in der Frageform gehal-
ten. Es handelt sich nicht nur um rhetorisch-suggestive, sondern auch um tas-
tend hypothetische, versuchende, letztlich aporetische Fragen.
 
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