4 Versuch einer Selbstkritik
Horizont, der zunächst der seiner eigenen Zeit ist. Schon im 1. Kapitel stellt er
Symptome von „Niedergang“ und „Verfall“ (12, 9; 12, 26) „bei uns, den moder-
nen4 Menschen und Europäern“ (12,11 f.) fest. Damit nimmt er in diesem späten
Rückblick entsprechende Aussagen aus der Frühschrift auf, die ebenfalls kul-
turkritisch den „Verfall“ beschwören und die Menschen der Gegenwart als
„Epigonen“, „Spätlinge“ und schwächliche „Nachkommen“ einer starken und
großen früheren Zeit verachten - so sehr, daß N. emphatisch ausruft: „Fort,
fort mit euch verkümmerten, abgemagerten Epigonen!“ (75, 29f.), um schließ-
lich auf einem Höhepunkt seiner Ausführungen Goethe und Schiller als „Hel-
den“ einer vergangenen kulturellen Blütezeit aufzurufen und im Kontrast dazu
von „unserer ermüdeten Cultur“ (131, 34) zu sprechen, die nur noch „Epigonen
solcher Helden“ aufweise (131, 10 f.). Weder bei solchen Ausführungen in der
Frühschrift noch im späten Rückblick nennt N. den im 19. Jahrhundert längst
etablierten Epigonen-Diskurs, den er in seine eigene Zeitdiagnose übernimmt
und vehement steigert. Bereits 1836, am Ende der „großen“ Zeit, deren Wahr-
nehmung sich vor allem mit Goethes überragender Gestalt verband, hatte Karl
Immermann in einem Roman mit dem programmatischen Titel Die Epigonen
diese Zeitdiagnose gegeben. Sie wurde über ein halbes Jahrhundert hinweg von
zahlreichen Schriftstellern aufgegriffen (vgl. den ausführlichen Kommentar zu
75, 25-32). In N.s Spätschriften, zu denen der Versuch einer Selbstkritik gehört,
verschärft sich die Feststellung von Niedergang und Epigonentum im leitmoti-
visch verwendeten Begriff der „decadence“.
Als Gegenmacht von Epigonentum und Verfall beschwört N. das „Dionysi-
sche“. Damit opponiert er gegen den resignativen weltanschaulichen Pessimis-
mus seiner einstigen philosophischen Leitfigur Schopenhauer und gegen den
zeitgenössischen Kulturpessimismus. Das „Dionysische“ formiert er zum Inbe-
griff elementarer neuer Lebensenergien. Die aus einem Überwindungsbedürf-
nis und als Reaktion auf die epigonale Zeitstimmung entstandene Vorstellung
einer „dionysischen“ Erneuerung der Kultur zeichnet sich in GT nur in Ansät-
zen ab; im selbstkritischen Rückblick macht er daraus ein offensives Pro-
gramm. Allerdings gibt er nun die in der Frühschrift legitimierende Berufung
auf Wagners Musik als Zeugnis solch ,dionysischer4 Wiedergeburt auf. Eben-
falls verschwindet der Begriff des Apollinischen, den er in der Anfangspartie
der Frühschrift zum gleichgewichtigen Konterpart des Dionysischen gemacht
hatte, um damit die Grundstruktur der griechischen Tragödie zu beschreiben.
Mit der Vernachlässigung des „Apollinischen“ zieht er in seinem Rückblick die
Konsequenz aus der Verschiebung des Schwerpunktes schon in den späteren
Partien der Tragödienschrift selbst. In ihnen weicht bereits die Opposition von
Apollinischem und Dionysischem derjenigen von Dionysischem und „Sokrati-
schem“. Umso mehr hält N. in seiner Retrospektive an dieser Opposition fest.
Horizont, der zunächst der seiner eigenen Zeit ist. Schon im 1. Kapitel stellt er
Symptome von „Niedergang“ und „Verfall“ (12, 9; 12, 26) „bei uns, den moder-
nen4 Menschen und Europäern“ (12,11 f.) fest. Damit nimmt er in diesem späten
Rückblick entsprechende Aussagen aus der Frühschrift auf, die ebenfalls kul-
turkritisch den „Verfall“ beschwören und die Menschen der Gegenwart als
„Epigonen“, „Spätlinge“ und schwächliche „Nachkommen“ einer starken und
großen früheren Zeit verachten - so sehr, daß N. emphatisch ausruft: „Fort,
fort mit euch verkümmerten, abgemagerten Epigonen!“ (75, 29f.), um schließ-
lich auf einem Höhepunkt seiner Ausführungen Goethe und Schiller als „Hel-
den“ einer vergangenen kulturellen Blütezeit aufzurufen und im Kontrast dazu
von „unserer ermüdeten Cultur“ (131, 34) zu sprechen, die nur noch „Epigonen
solcher Helden“ aufweise (131, 10 f.). Weder bei solchen Ausführungen in der
Frühschrift noch im späten Rückblick nennt N. den im 19. Jahrhundert längst
etablierten Epigonen-Diskurs, den er in seine eigene Zeitdiagnose übernimmt
und vehement steigert. Bereits 1836, am Ende der „großen“ Zeit, deren Wahr-
nehmung sich vor allem mit Goethes überragender Gestalt verband, hatte Karl
Immermann in einem Roman mit dem programmatischen Titel Die Epigonen
diese Zeitdiagnose gegeben. Sie wurde über ein halbes Jahrhundert hinweg von
zahlreichen Schriftstellern aufgegriffen (vgl. den ausführlichen Kommentar zu
75, 25-32). In N.s Spätschriften, zu denen der Versuch einer Selbstkritik gehört,
verschärft sich die Feststellung von Niedergang und Epigonentum im leitmoti-
visch verwendeten Begriff der „decadence“.
Als Gegenmacht von Epigonentum und Verfall beschwört N. das „Dionysi-
sche“. Damit opponiert er gegen den resignativen weltanschaulichen Pessimis-
mus seiner einstigen philosophischen Leitfigur Schopenhauer und gegen den
zeitgenössischen Kulturpessimismus. Das „Dionysische“ formiert er zum Inbe-
griff elementarer neuer Lebensenergien. Die aus einem Überwindungsbedürf-
nis und als Reaktion auf die epigonale Zeitstimmung entstandene Vorstellung
einer „dionysischen“ Erneuerung der Kultur zeichnet sich in GT nur in Ansät-
zen ab; im selbstkritischen Rückblick macht er daraus ein offensives Pro-
gramm. Allerdings gibt er nun die in der Frühschrift legitimierende Berufung
auf Wagners Musik als Zeugnis solch ,dionysischer4 Wiedergeburt auf. Eben-
falls verschwindet der Begriff des Apollinischen, den er in der Anfangspartie
der Frühschrift zum gleichgewichtigen Konterpart des Dionysischen gemacht
hatte, um damit die Grundstruktur der griechischen Tragödie zu beschreiben.
Mit der Vernachlässigung des „Apollinischen“ zieht er in seinem Rückblick die
Konsequenz aus der Verschiebung des Schwerpunktes schon in den späteren
Partien der Tragödienschrift selbst. In ihnen weicht bereits die Opposition von
Apollinischem und Dionysischem derjenigen von Dionysischem und „Sokrati-
schem“. Umso mehr hält N. in seiner Retrospektive an dieser Opposition fest.