72 Die Geburt der Tragödie
führliche Kommentar zu 117, 15-25 mit den einschlägigen Zitaten aus der von
N. nicht veröffentlichten Partie). Die privilegierte Elite siedelt er in GT noch
ganz in der Sphäre von Kunst und Bildung an, später - markant in GM - wird
daraus das Vorrecht einer machtausübenden Kaste, welche er die „Vorneh-
men“ nennt: „Macht“ wird zum Recht des Stärkeren, das sich in einer entspre-
chenden „Moral“ ausprägt. Neu gegenüber MA ist es, daß N. nun auch die
von ihm als Gegenstrategie der bisher unterlegenen Schwächeren interpretierte
jüdisch-christliche Moral angreift. Er verwirft sie als eine Sklavenmoral und
hat dabei die schon in GT verabscheuten modernen Phänomene der Demokra-
tie und des Sozialismus im Visier, die er als Folge-Erscheinungen der jüdisch-
christlichen Moral versteht.
N. selbst allerdings durchschaut in seiner Vorrede zu GM, daß derartige
Aussagen über Moral und die „Herkunft“ von Moral auf spekulativen Hypothe-
sen beruhen. Er spricht von „Hypothesen“, von „Herkunfts-Hypothesen“
(KSA 5, 251, 4), ja er blickt skeptisch auf „eignes oder fremdes Hypothesenwe-
sen über den Ursprung der Moral“ (251, 28 f.), um prinzipieller nach dem
„Werth der Moral“ zu fragen (251, 31), und er stellt fest: „der Werth die-
ser Werthe [der moralischen Werte „Gut“ und „Böse“] ist selbst erst
einmal in Frage zu stellen“ (253, 8-10). Den Hintergrund bildet seine
fundamentale Theorie, daß alle Werte lediglich das Ergebnis von Wertschät-
zungen sind. Diese Theorie relativiert alles, auch die eigene Wertsetzung. Den-
noch erscheint ihm von seiner historischen Erfahrung der Decadence aus die
Wertschätzung und Höchst-Wertung des als „Willen zur Macht“ interpretierten
„Lebens“ als aktuelles Erfordernis. Hier schließt sich der Ring zu dem schon
in der Tragödienschrift propagierten „dionysische[n] Leben“ (KSA 1, 132, 11),
das bereits dort das Antidot gegen „alles Abgelebte, Morsche, Zerbrochne, Ver-
kümmerte“ (132, If.) sein sollte. Bis zuletzt war Dionysos als mythologische
Beschwörung rauschhafter „Lebens“-Intensität gegen die Decadence gedacht.
Gerade weil N., beginnend mit MA, gegenüber seinem Erstling so vieles revi-
dierte, mit besonderem Nachdruck Schopenhauers Mitleids-Ethik in der Mor-
genröthe (Nr. 132-146) und in der Vorrede zu GM (KSA 5, 251, 31-252, 32) - eine
Mitleidsethik, die für ihn nur Epiphänomen christlicher und letztlich dekaden-
ter „Moral“ ist - betonte er diese Kontinuität des Dionysischen.
Wirkung
Das erste Echo auf die Tragödienschrift kam von Richard und Cosima Wagner,
die sich schon durch das Vorwort an Richard Wagner unmittelbar angesprochen
fühlten und sich für das Werk des jungen Freundes und Anhängers begeister-
führliche Kommentar zu 117, 15-25 mit den einschlägigen Zitaten aus der von
N. nicht veröffentlichten Partie). Die privilegierte Elite siedelt er in GT noch
ganz in der Sphäre von Kunst und Bildung an, später - markant in GM - wird
daraus das Vorrecht einer machtausübenden Kaste, welche er die „Vorneh-
men“ nennt: „Macht“ wird zum Recht des Stärkeren, das sich in einer entspre-
chenden „Moral“ ausprägt. Neu gegenüber MA ist es, daß N. nun auch die
von ihm als Gegenstrategie der bisher unterlegenen Schwächeren interpretierte
jüdisch-christliche Moral angreift. Er verwirft sie als eine Sklavenmoral und
hat dabei die schon in GT verabscheuten modernen Phänomene der Demokra-
tie und des Sozialismus im Visier, die er als Folge-Erscheinungen der jüdisch-
christlichen Moral versteht.
N. selbst allerdings durchschaut in seiner Vorrede zu GM, daß derartige
Aussagen über Moral und die „Herkunft“ von Moral auf spekulativen Hypothe-
sen beruhen. Er spricht von „Hypothesen“, von „Herkunfts-Hypothesen“
(KSA 5, 251, 4), ja er blickt skeptisch auf „eignes oder fremdes Hypothesenwe-
sen über den Ursprung der Moral“ (251, 28 f.), um prinzipieller nach dem
„Werth der Moral“ zu fragen (251, 31), und er stellt fest: „der Werth die-
ser Werthe [der moralischen Werte „Gut“ und „Böse“] ist selbst erst
einmal in Frage zu stellen“ (253, 8-10). Den Hintergrund bildet seine
fundamentale Theorie, daß alle Werte lediglich das Ergebnis von Wertschät-
zungen sind. Diese Theorie relativiert alles, auch die eigene Wertsetzung. Den-
noch erscheint ihm von seiner historischen Erfahrung der Decadence aus die
Wertschätzung und Höchst-Wertung des als „Willen zur Macht“ interpretierten
„Lebens“ als aktuelles Erfordernis. Hier schließt sich der Ring zu dem schon
in der Tragödienschrift propagierten „dionysische[n] Leben“ (KSA 1, 132, 11),
das bereits dort das Antidot gegen „alles Abgelebte, Morsche, Zerbrochne, Ver-
kümmerte“ (132, If.) sein sollte. Bis zuletzt war Dionysos als mythologische
Beschwörung rauschhafter „Lebens“-Intensität gegen die Decadence gedacht.
Gerade weil N., beginnend mit MA, gegenüber seinem Erstling so vieles revi-
dierte, mit besonderem Nachdruck Schopenhauers Mitleids-Ethik in der Mor-
genröthe (Nr. 132-146) und in der Vorrede zu GM (KSA 5, 251, 31-252, 32) - eine
Mitleidsethik, die für ihn nur Epiphänomen christlicher und letztlich dekaden-
ter „Moral“ ist - betonte er diese Kontinuität des Dionysischen.
Wirkung
Das erste Echo auf die Tragödienschrift kam von Richard und Cosima Wagner,
die sich schon durch das Vorwort an Richard Wagner unmittelbar angesprochen
fühlten und sich für das Werk des jungen Freundes und Anhängers begeister-