Stellenkommentar GT 1, KSA 1, S. 23-24 87
Hinausreichen über das Physische in eine zwar höhere, aber nicht transzen-
dente Sphäre. Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung II enthält ein Kapi-
tel ,lieber das metaphysische Bedürfniß des Menschen4 (Erstes Buch, Kap. 17).
Darin lehnt er ein Verständnis der Metaphysik nach Maßgabe religiöser Trans-
zendenz-Vorstellungen ab. Er resümiert: „In diesem Sinne also geht die Meta-
physik über die Erscheinung, d. i. die Natur hinaus, zu dem in oder hinter
ihr Verborgenen (to pcTOi to cpvoiKOv), es jedoch immer nur als das in ihr
Erscheinende, nicht aber unabhängig von aller Erscheinung betrachtend: sie
bleibt daher immanent und wird nicht transcendent. Denn sie reißt sich von
der Erfahrung nie ganz los, sondern bleibt die bloße Deutung und Auslegung
derselben [...] Sie ist demnach Erfahrungswissenschaft: aber nicht einzelne
Erfahrungen, sondern das Ganze und Allgemeine aller Erfahrung ist ihr Gegen-
stand und ihre Quelle.“
Zu N.s Konzept und dessen Begründungszusammenhang vgl. auch den
Kommentar zu 47, 23-30.
Kapitel 1-10: Die Geburt der Tragödie
1. Kapitel
Mit diesem Kapitel eröffnet N. seine Darstellung, um die wesentlichen Positio-
nen und auch die Koordinaten abzustecken: die polare Konstellation des Apol-
linischen und Dionysischen, deren psychologisch-physiologische Analogisie-
rung durch Traum und Rausch und die Rückführung auf das philosophische
Grundkonzept Schopenhauers in dessen Hauptwerk Die Welt als Wille und Vor-
stellung. Aufgrund dieser Rückführung erscheint das „Apollinische“ als allego-
rische Mythologisierung der „Vorstellung“, das „Dionysische“ als allegorische
Mythologisierung des „Willens“. Auch schon einen anderen Schlüsselbegriff
Schopenhauers exponiert N.: das principium individuationis, das er mit der
apollinischen „Vorstellung“ verbindet und dessen Auflösung er als Rückkehr
in den dionysischen vorindividuellen Urgrund des „Willens“ deutet. Der
Schlußabschnitt gibt eine - an Wagner anschließende - ,dionysische4 Interpre-
tation von Beethovens 9. Symphonie.
Einige Partien am Anfang des Kapitels haben Varianten. So steht an Stelle
des Zitats aus Wagners Meistersingern (26, 15-20) ein Hebbel-Zitat, und wäh-
rend in der auf dieses Zitat folgenden Partie nur von den „Künstlern“ und der
„Kunst“ die Rede ist, stehen in der in KSA 1 eingegangenen Fassung mehrere
Hinweise auf die philosophische Sphäre („Der philosophische Mensch“, 26,
30 f.; „Schopenhauer bezeichnet geradezu die Gabe, dass Einem zu Zeiten die
Hinausreichen über das Physische in eine zwar höhere, aber nicht transzen-
dente Sphäre. Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung II enthält ein Kapi-
tel ,lieber das metaphysische Bedürfniß des Menschen4 (Erstes Buch, Kap. 17).
Darin lehnt er ein Verständnis der Metaphysik nach Maßgabe religiöser Trans-
zendenz-Vorstellungen ab. Er resümiert: „In diesem Sinne also geht die Meta-
physik über die Erscheinung, d. i. die Natur hinaus, zu dem in oder hinter
ihr Verborgenen (to pcTOi to cpvoiKOv), es jedoch immer nur als das in ihr
Erscheinende, nicht aber unabhängig von aller Erscheinung betrachtend: sie
bleibt daher immanent und wird nicht transcendent. Denn sie reißt sich von
der Erfahrung nie ganz los, sondern bleibt die bloße Deutung und Auslegung
derselben [...] Sie ist demnach Erfahrungswissenschaft: aber nicht einzelne
Erfahrungen, sondern das Ganze und Allgemeine aller Erfahrung ist ihr Gegen-
stand und ihre Quelle.“
Zu N.s Konzept und dessen Begründungszusammenhang vgl. auch den
Kommentar zu 47, 23-30.
Kapitel 1-10: Die Geburt der Tragödie
1. Kapitel
Mit diesem Kapitel eröffnet N. seine Darstellung, um die wesentlichen Positio-
nen und auch die Koordinaten abzustecken: die polare Konstellation des Apol-
linischen und Dionysischen, deren psychologisch-physiologische Analogisie-
rung durch Traum und Rausch und die Rückführung auf das philosophische
Grundkonzept Schopenhauers in dessen Hauptwerk Die Welt als Wille und Vor-
stellung. Aufgrund dieser Rückführung erscheint das „Apollinische“ als allego-
rische Mythologisierung der „Vorstellung“, das „Dionysische“ als allegorische
Mythologisierung des „Willens“. Auch schon einen anderen Schlüsselbegriff
Schopenhauers exponiert N.: das principium individuationis, das er mit der
apollinischen „Vorstellung“ verbindet und dessen Auflösung er als Rückkehr
in den dionysischen vorindividuellen Urgrund des „Willens“ deutet. Der
Schlußabschnitt gibt eine - an Wagner anschließende - ,dionysische4 Interpre-
tation von Beethovens 9. Symphonie.
Einige Partien am Anfang des Kapitels haben Varianten. So steht an Stelle
des Zitats aus Wagners Meistersingern (26, 15-20) ein Hebbel-Zitat, und wäh-
rend in der auf dieses Zitat folgenden Partie nur von den „Künstlern“ und der
„Kunst“ die Rede ist, stehen in der in KSA 1 eingegangenen Fassung mehrere
Hinweise auf die philosophische Sphäre („Der philosophische Mensch“, 26,
30 f.; „Schopenhauer bezeichnet geradezu die Gabe, dass Einem zu Zeiten die