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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0028
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Überblickskommentar 7

tion von 1830 und die Revolution von 1848 waren Fanale. Forderungen nach
einer ökonomisch und sozial gerechteren Ordnung angesichts eines bisher
ungekannten Bevölkerungswachstums sowie der Verarmung breiter Schichten
(,Pauperismus4, Hungersnöte, Auswanderungswellen) drangen vor. Hinzukam
der sich immer mehr abzeichnende Bedeutungsverlust des Adels, der dennoch
seine privilegierte Stellung zu behaupten suchte. Das Elend der Industrie-
Arbeiter im Gefolge der Industrialisierung und des damit verbundenen kapita-
listischen Wirtschaftssystems führte gerade im zeitlichen Vorfeld von N.s Erst-
lingsschrift zu einer organisierten Arbeiterbewegung. N. verabscheute sie in GT
als „socialistische Bewegungen der Gegenwart“ (123, 2). 1863 war der ,Allge-
meine Deutsche Arbeiterverein4 in Leipzig von Ferdinand Lassalle gegründet
worden, 1868 der englische ,Trade Union Congress4, 1869 in Eisenach die
Sozialdemokratische Arbeiterpartei4, an deren Spitze August Bebel und Wil-
helm Liebknecht standen. Beunruhigt zeigte sich N. auch angesichts der mäch-
tig sich entfaltenden amerikanischen Demokratie (zu seiner Tocqueville-
Rezeption vgl. den ausführlichen Einzelkommentar zu 20, 18-20). Auf die
Abschaffung der Sklaverei in den USA durch Lincoln wenige Jahre vor der
Entstehung von GT reagierte N. ebenso wie auf die Bewegungen der Arbeiter-
schaft in Europa mit einem vehementen Plädoyer für die Sklaverei (117, 15-25)
als Voraussetzung der „Cultur“.
Von Anfang an und - nach einem markanten Intervall in der Schrift
Menschliches, Allzumenschliches - mit zunehmender Entschiedenheit stand N.
politisch auf der Seite einer antimodernen Reaktion. Besonders aufgrund eines
konservativen und individualistischen Kulturbegriffs, der sich schon aus sei-
nen frühen Briefen ablesen läßt und in mancherlei Hinsicht seine Basler Nähe
zu Jacob Burckhardt verrät, bekämpfte N. die „modernen Ideen“. Zu ihnen
gehörten auch Theoriebildungen, die nicht ein emphatisch-elitäres Denken,
sondern ein pragmatisch nüchterner und zugleich philanthropischer Blick auf
das Allgemeinwohl, auf das Glück der „Vielen“ bestimmt. In England entstand
daraus ein europäisch einflußreicher, rational argumentierender Utilitarismus.
Jeremy Bentham (1748-1832) hatte ihn begründet, und John Stuart Mill (1806-
1873) als Theoretiker des Liberalismus (On Liberty, 1859) führte ihn in seinem
Werk Utilitarianism (1861) zu einem neuen Höhepunkt. Beide Werke besaß N.
in der 1869 erschienenen deutschen Übersetzung. Er arbeitete sie intensiv
durch, wie die zahlreichen Lesespuren zeigen (John Stuart Mill: Die Freiheit,
übersetzt von Th. Gomperz. Das Nützlichkeitsprincip, übersetzt von Ad. Wahr-
mund. Rectoratsrede übersetzt von Ad. Wahrmund. Leipzig 1869. In: John Stuart
Mill’s Gesammelte Werke. Autorisierte Uebersetzung unter Redaktion von Theo-
dor Gomperz. Erster Band. Vgl. Nietzsches private Bibliothek, S. 383 f.). Daß Mill
auf dem Nützlichkeitsprinzip sogar eine Ethik aufbaute, mußte N. umso mehr
 
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