8 Versuch einer Selbstkritik
provozieren, als er sich dem Kampf gegen die „Moral“ verschrieben hatte. Des-
halb rechnet er in seiner späten Retrospektive auf die Tragödienschrift zu den
„modernen Ideen“ und den „Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks“
auch die „vorherrschend gewordene Vernünftigkeit“ und den „prakti-
sche [n] und theoretische[n] Utilitarismus, gleich der Demokratie selbst,
mit der er gleichzeitig ist“ (16, 30-34). In der Schrift Jenseits von Gut und Böse,
die im gleichen Jahr (1886) wie der Versuch einer Selbstkritik entstand, setzt
sich N. ausführlich mit dem von den englischen Utilitaristen propagierten „all-
gemeinen Nutzen“, dem „Glück der Meisten“ und der „allgemeinen Wohlfahrt“
auseinander (JGB 228, KSA 5, S. 163-165).
Daß N. im Kontext der Attacke gegen den Utilitarismus, die sich auch gegen
den „Optimismus“ einer von sozialen und ökonomischen Fortschrittsideen
geprägten Gegenwartszivilisation richtet, scheinbar unvermittelt Epikur nennt
(17, 2f.), deutet ebenfalls auf seine Kenntnis „utilitaristischer“ Werke hin, denn
John Stuart Mill hatte sich in seinem Utilitarianism auf Epikur berufen, der in
der Tat bereits den „Nutzen“ zu einem wesentlichen Bestandteil seiner durch-
aus humanen Ethik gemacht hatte. N. selbst war mit Epikur ohnehin gut ver-
traut, seit er im Rahmen seiner frühen philologischen Studien eine Schrift über
die Quellen des Diogenes Laertius verfaßt hatte (De Laertii Diogenis fontibus).
Der spätantike Kompilator Diogenes Laertius hatte in seinem wirkungsreichen
Kompendium Leben und Meinungen der Philosophen einen zentralen Text Epi-
kurs mitgeteilt und so wesentlich zu dessen genauerer Kenntnis beigetragen.
Schon vorher entwickelt N. ein dialektisches Denkschema, demzufolge die
Griechen in ihrer jugendlichen, „gesunden“ Zeit stark genug gewesen seien,
sich dem Tragischen zuzuwenden (das er mit dem Pessimismus gleichsetzt),
in ihrer dekadenten Spätzeit hingegen sich einer oberflächlich-optimistischen
Lebenshaltung hingegeben hätten. In dieses Denkschema ordnet er auch Epi-
kur ein, von dem überliefert ist, daß er schwer leidend war. Vor diesem Hinter-
grund und im Hinblick auf Epikurs ,optimistische4 Annahme, es sei dennoch
möglich, ein gelingendes Leben zu führen, wenn man es nur an der Vernunft
orientiere, fragt N. nun: „War Epikur ein Optimist - gerade als Leidender?“
(17, 2f.). Schon gegen Ende des 1. Kapitels fragt er, ob der „epikurische Wille
gegen den Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden“ gewesen sei (12,
29 f.).
In eine ähnliche Perspektive - in die einer der „Wahrheit“ zum Trotz ange-
nommenen optimistisch-rationalen und ,moralischen4 Haltung - rückt N. ganz
am Ende dieses 1. Kapitels Sokrates: „Oh Sokrates, Sokrates, war das vielleicht
dein Geheimniss? Oh geheimnissvoller Ironiker, war dies vielleicht deine -
Ironie?-44 (13, 3-5). Wie bei Epikur erscheint also die von N. als positiv-
optimistisch4 interpretierte, weil auf rationale und moralische Lebensbewälti-
provozieren, als er sich dem Kampf gegen die „Moral“ verschrieben hatte. Des-
halb rechnet er in seiner späten Retrospektive auf die Tragödienschrift zu den
„modernen Ideen“ und den „Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks“
auch die „vorherrschend gewordene Vernünftigkeit“ und den „prakti-
sche [n] und theoretische[n] Utilitarismus, gleich der Demokratie selbst,
mit der er gleichzeitig ist“ (16, 30-34). In der Schrift Jenseits von Gut und Böse,
die im gleichen Jahr (1886) wie der Versuch einer Selbstkritik entstand, setzt
sich N. ausführlich mit dem von den englischen Utilitaristen propagierten „all-
gemeinen Nutzen“, dem „Glück der Meisten“ und der „allgemeinen Wohlfahrt“
auseinander (JGB 228, KSA 5, S. 163-165).
Daß N. im Kontext der Attacke gegen den Utilitarismus, die sich auch gegen
den „Optimismus“ einer von sozialen und ökonomischen Fortschrittsideen
geprägten Gegenwartszivilisation richtet, scheinbar unvermittelt Epikur nennt
(17, 2f.), deutet ebenfalls auf seine Kenntnis „utilitaristischer“ Werke hin, denn
John Stuart Mill hatte sich in seinem Utilitarianism auf Epikur berufen, der in
der Tat bereits den „Nutzen“ zu einem wesentlichen Bestandteil seiner durch-
aus humanen Ethik gemacht hatte. N. selbst war mit Epikur ohnehin gut ver-
traut, seit er im Rahmen seiner frühen philologischen Studien eine Schrift über
die Quellen des Diogenes Laertius verfaßt hatte (De Laertii Diogenis fontibus).
Der spätantike Kompilator Diogenes Laertius hatte in seinem wirkungsreichen
Kompendium Leben und Meinungen der Philosophen einen zentralen Text Epi-
kurs mitgeteilt und so wesentlich zu dessen genauerer Kenntnis beigetragen.
Schon vorher entwickelt N. ein dialektisches Denkschema, demzufolge die
Griechen in ihrer jugendlichen, „gesunden“ Zeit stark genug gewesen seien,
sich dem Tragischen zuzuwenden (das er mit dem Pessimismus gleichsetzt),
in ihrer dekadenten Spätzeit hingegen sich einer oberflächlich-optimistischen
Lebenshaltung hingegeben hätten. In dieses Denkschema ordnet er auch Epi-
kur ein, von dem überliefert ist, daß er schwer leidend war. Vor diesem Hinter-
grund und im Hinblick auf Epikurs ,optimistische4 Annahme, es sei dennoch
möglich, ein gelingendes Leben zu führen, wenn man es nur an der Vernunft
orientiere, fragt N. nun: „War Epikur ein Optimist - gerade als Leidender?“
(17, 2f.). Schon gegen Ende des 1. Kapitels fragt er, ob der „epikurische Wille
gegen den Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden“ gewesen sei (12,
29 f.).
In eine ähnliche Perspektive - in die einer der „Wahrheit“ zum Trotz ange-
nommenen optimistisch-rationalen und ,moralischen4 Haltung - rückt N. ganz
am Ende dieses 1. Kapitels Sokrates: „Oh Sokrates, Sokrates, war das vielleicht
dein Geheimniss? Oh geheimnissvoller Ironiker, war dies vielleicht deine -
Ironie?-44 (13, 3-5). Wie bei Epikur erscheint also die von N. als positiv-
optimistisch4 interpretierte, weil auf rationale und moralische Lebensbewälti-