Überblickskommentar 9
gung ausgerichtete Haltung des Sokrates letztlich nur als Flucht nach vorne,
als grandiose Verdrängungsleistung, von der aber ein unterschwellig dementie-
rendes Bewußtsein vorhanden bleibt, so daß eine subversive „Ironie“ mit am
Werk ist. Trotz der inzwischen entschieden formulierten Absage an den für die
Tragödienschrift noch maßgebenden Schopenhauer schlägt hier doch wieder
Schopenhauers Weitsicht durch: der „Pessimismus“, der sich aus dem Bewußt-
sein der eigentlichen „Wahrheit“ des Daseins ergibt, und die Flucht in eine
davon nur scheinbar befreiende, aber letztlich ungültige Sphäre von Vorstel-
lungen4 und Bewältigungsstrategien.
Sukzessive nähert sich N. in seinem Versuch einer Selbstkritik auch dem
großen Thema der anderen Spätschriften an, dem Thema der „Moral“. Endgül-
tig schlägt er es am Ende des 4. Kapitels an, um es dann sofort am Beginn des
5. Kapitels noch entschiedener aufzugreifen und durchzuführen. Immer wieder
wählt er dieses Verfahren: Das Ende eines Kapitels bildet die Schwelle zum
nächsten (die literarische Rhetorik, mit der sich N. schon in seinen Basler
Vorlesungen intensiv befaßte, kennt dafür den Terminus: Prokataskeue, prae-
paratio), das sich gleich von Beginn an voll auf das neue Thema konzentriert.
Obwohl die Tragödienschrift nicht direkt das Problem der Moral traktiert, das
die Hauptschriften der Umwertungszeit, Jenseits von Gut und Böse und Zur
Genealogie der Moral, ins Zentrum stellen, versucht N. in seiner Selbstkritik
nachzuweisen, daß es in der Frühschrift indirekt schon voll präsent sei und
demnach in seinem Denken von Anfang an ein Grundmotiv bilde. Den Ansatz
für diesen Nachweis findet er in dem Argument, die Tragödienschrift habe „die
Kunst“, folglich „nicht die Moral“ als die eigentlich metaphysische Tätigkeit
des Menschen hingestellt, und alsbald beruft er sich auf den zentralen Satz
des Frühwerks, „dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt
gerechtfertigt ist“ (17, 11 f.). „Ästhetisch“, so interpretiert er, heiße „gegen
die moralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins“: „jenseits von
Gut und Böse“ (17, 26-29) - und damit auch schon antichristlich, insofern das
Christentum „die ausschweifendste Durchfigurirung des moralischen Thema’s“
sei (18, 8f.).
Dies sind weitgehend indirekte Schlüsse, die dazu dienen, eine konse-
quente geistige Autobiographie zu konstruieren. Zu diesem Zweck benutzt N.
sogar ein argumentum ex silentio. In der Frühschrift, so bemerkt er, herrsche
ein „feindselige[s] Schweigen“ gegen alles Christliche, das im Widerwillen
gegen die christliche Moralität gründe. Immerhin findet sich in der Tragödien-
schrift eine einzige Stelle, die mit dieser Selbstinterpretation übereinstimmt
und sogar schon ausdrücklich die Möglichkeit eines Lebensverständnisses jen-
seits von Gut und Böse entwirft. Im 3. Kapitel heißt es: „Wer, mit einer anderen
Religion im Herzen, an diese Olympier [gemeint sind die griechischen Götter]
gung ausgerichtete Haltung des Sokrates letztlich nur als Flucht nach vorne,
als grandiose Verdrängungsleistung, von der aber ein unterschwellig dementie-
rendes Bewußtsein vorhanden bleibt, so daß eine subversive „Ironie“ mit am
Werk ist. Trotz der inzwischen entschieden formulierten Absage an den für die
Tragödienschrift noch maßgebenden Schopenhauer schlägt hier doch wieder
Schopenhauers Weitsicht durch: der „Pessimismus“, der sich aus dem Bewußt-
sein der eigentlichen „Wahrheit“ des Daseins ergibt, und die Flucht in eine
davon nur scheinbar befreiende, aber letztlich ungültige Sphäre von Vorstel-
lungen4 und Bewältigungsstrategien.
Sukzessive nähert sich N. in seinem Versuch einer Selbstkritik auch dem
großen Thema der anderen Spätschriften an, dem Thema der „Moral“. Endgül-
tig schlägt er es am Ende des 4. Kapitels an, um es dann sofort am Beginn des
5. Kapitels noch entschiedener aufzugreifen und durchzuführen. Immer wieder
wählt er dieses Verfahren: Das Ende eines Kapitels bildet die Schwelle zum
nächsten (die literarische Rhetorik, mit der sich N. schon in seinen Basler
Vorlesungen intensiv befaßte, kennt dafür den Terminus: Prokataskeue, prae-
paratio), das sich gleich von Beginn an voll auf das neue Thema konzentriert.
Obwohl die Tragödienschrift nicht direkt das Problem der Moral traktiert, das
die Hauptschriften der Umwertungszeit, Jenseits von Gut und Böse und Zur
Genealogie der Moral, ins Zentrum stellen, versucht N. in seiner Selbstkritik
nachzuweisen, daß es in der Frühschrift indirekt schon voll präsent sei und
demnach in seinem Denken von Anfang an ein Grundmotiv bilde. Den Ansatz
für diesen Nachweis findet er in dem Argument, die Tragödienschrift habe „die
Kunst“, folglich „nicht die Moral“ als die eigentlich metaphysische Tätigkeit
des Menschen hingestellt, und alsbald beruft er sich auf den zentralen Satz
des Frühwerks, „dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt
gerechtfertigt ist“ (17, 11 f.). „Ästhetisch“, so interpretiert er, heiße „gegen
die moralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins“: „jenseits von
Gut und Böse“ (17, 26-29) - und damit auch schon antichristlich, insofern das
Christentum „die ausschweifendste Durchfigurirung des moralischen Thema’s“
sei (18, 8f.).
Dies sind weitgehend indirekte Schlüsse, die dazu dienen, eine konse-
quente geistige Autobiographie zu konstruieren. Zu diesem Zweck benutzt N.
sogar ein argumentum ex silentio. In der Frühschrift, so bemerkt er, herrsche
ein „feindselige[s] Schweigen“ gegen alles Christliche, das im Widerwillen
gegen die christliche Moralität gründe. Immerhin findet sich in der Tragödien-
schrift eine einzige Stelle, die mit dieser Selbstinterpretation übereinstimmt
und sogar schon ausdrücklich die Möglichkeit eines Lebensverständnisses jen-
seits von Gut und Böse entwirft. Im 3. Kapitel heißt es: „Wer, mit einer anderen
Religion im Herzen, an diese Olympier [gemeint sind die griechischen Götter]