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10 Versuch einer Selbstkritik

herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heiligkeit, nach unleiblicher Ver-
geistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei ihnen sucht, der wird
unmuthig und enttäuscht ihnen bald den Rücken kehren müssen. Hier erinnert
nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein üppiges, ja trium-
phirendes Dasein zu uns, in dem alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel
ob es gut oder böse ist“ (34, 28-35, 3).
Allerdings fließt in dieser Aussage vieles aus der Tradition zusammen. Sie
läßt keineswegs auf eine revolutionäre Konzeption N.s schließen, und auch
später lag seiner vehementen Attacke gegen die Moral, insbesondere gegen die
christliche, nicht eine geniale Intuition und bloß ein „Instinkt“ (19, 12)
zugrunde, der ihn an den Anfang eines ganz neuen Welt- und Lebensverständ-
nisses stellen würde. Schon Goethe, dessen Werk N. gut kannte, hatte in seiner
,klassischen4 Phase die antike Lebensbejahung, insbesondere die Bejahung des
sinnlich erfüllten Daseins seit den Römischen Elegien immer wieder der christ-
lichen Sinnenfeindschaft, Weltverachtung und Askese entgegengestellt. Diese
wurde für ihn zum Inbegriff einer lebensfeindlichen „Moral“. Bezeichnender-
weise überschrieb Goethe einen Abschnitt seiner Winckelmann-Gedenkschrift
mit dem lapidaren Titel Heidnisches. Die neopagane Diesseitswendung ver-
stärkte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Ein N. wohlbekannter und weithin
wirkender Exponent dieser Strömung war Heine, der mit polemischer Verve
gegen den christlichen Spiritualismus einen auf diesseitige Daseinsbejahung
und Daseinserfüllung orientierten Sensualismus propagierte. Prägnant formu-
lierte Heine die ihm vom Saint-Simonismus her vertraute Opposition von Spiri-
tualismus und Sensualismus in der Reise von München nach Genua, dem Kern-
stück seiner außerordentlich erfolgreichen und zu N.s Lektüren gehörenden
Reisebilder (vgl. den Brief an Sophie Ritschi, KSB 2, Nr. 578, S. 299), und in
der Romantischen Schule. Wenn N. in seiner späten Retrospektive auf die Tragö-
dienschrift dem Christentum mitsamt seiner „Moral“ anlastet, es habe den
„Hass auf die ,Welt‘“ gepredigt, die „Furcht vor der Schönheit und Sinnlich-
keit“ verbreitet und „ein Jenseits“ erfunden, „um das Diesseits besser zu ver-
leumden“ (18, 26-28), so ist dies ein Echo auf Goethe und Heine. Allerdings
radikalisiert er die vorgefundene Konfrontation. Ihm geht es nicht mehr um
das Recht der Menschen auf die spezifisch sinnliche Erfüllung eines Daseins,
das sich in seiner reinen Diesseitigkeit genügt, sondern abstrakt-prinzipiell um
das „Leben“. Mit der für seine letzten Schriften charakteristischen Vehemenz
hämmert er den Leitbegriff „Leben“ in der zweiten Hälfte des 5. Kapitels immer
von Neuem ein, um ihn als Gegenbegriff einer lebensfeindlichen „Moral“ ins
Zentrum der von ihm für eine ganze Epoche inaugurierten ,Lebensphilosophie4
zu rücken.
Diese Verschärfung hat ein Motiv, das nun allerdings gegenüber Goethes
und Heines Positionen Aktualität gewann: die Diagnose ,,ein[es] Verlangen[s]
 
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