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Überblickskommentar 11

in’s Nichts, an’s Ende“, einer dekadenten „Erkrankung“, „Erschöpfung, Verar-
mung an Leben“ (18, 28-19, 1), des „Verfalls“ (19, 9). Das in den Spätschriften
auffällig dominierende Motiv der Dekadenz - N. nahm es aus französischen
Quellen auf, um es vielfältig zu variieren - wird hier zum legitimierenden
Berufungsgrund für eine Lebensphilosophie, die Aktualität beansprucht. Deca-
dence, „Willen zum Untergang“, „Erkrankung“ sind Signalbegriffe, die an den
schon erörterten und bereits in der Tragödienschrift wiederholt exponierten
Begriff des Epigonentums anknüpfen und ihn radikalisieren. N. stellt nun nicht
mehr bloß eine kulturkritische Diagnose; mit forcierter Rhetorik inszeniert er
eine alarmierende Krisensituation, eine Endzeitstimmung, in der sich statt der
früher als Rettungsanker dienenden Kunstreligion und der auf Wagner gesetz-
ten kulturellen Hoffnung nur noch seine eigene ,Lebensphilosophie4 empfiehlt.
Eigentümlich brüchig erscheint der Versuch einer Selbstkritik im Hinblick
auf Schopenhauer. Zwar bedauert N. im 6. Kapitel, daß er in der Tragödien-
schrift „mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue
Werthschätzungen auszudrücken suchte, welche dem Geiste Kantens und
Schopenhauers [...] von Grund aus entgegen giengen!“ (19, 24-28), und ent-
schieden wendet er sich nun gegen Schopenhauers „Resignationismus“ (20,
4); aber er entkommt dieser Sphäre des Pessimismus nur, indem er mit einem
dialektischen Kunstgriff das „Tragische“ und den „Pessimismus“ der Griechen
als Zeichen von Kraft, Gesundheit und Fülle interpretiert, aufgrund deren sie
sogar vor einer schlimmen Grundverfassung des Daseins nicht zurückscheuten.
Im „Dionysischen“ scheint sie ihm aufgehoben. Ein Jahr später, im Herbst 1887,
notiert N. (NL 1887, KSA 12, 10[3], 455, 1-18) unter der Überschrift „Mein
neuer Weg zum ,Ja‘“:
Meine neue Fassung des Pessimismus als ein freiwilliges Aufsuchen der furchtbaren
und fragwürdigen Seiten des Daseins: womit mir verwandte Erscheinungen der Vergan-
genheit deutlich wurden. ,Wie viel .Wahrheit“ erträgt und wagt ein Geist?, Frage seiner
Stärke. Ein solcher Pessimism könnte münden in jene Form eines dionysischen Jasa-
gens zur Welt, wie sie ist: bis zum Wunsche einer absoluten Wiederkunft und Ewigkeit
[...] Die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als nothwendig zu begreifen,
sondern als wünschenswerth [...] in Hinsicht auf die bisher bejahten Seiten (etwa als
deren Complement und Vorbedingungen), sondern um ihrer selber willen, als die mächti-
geren, fruchtbareren, wahreren Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher
aus spricht.
Gegen Ende immer mehr beunruhigt, verrät die späte Selbstkritik, daß die
schon vorher wiederholt gestellte Frage „was ist dionysisch?“ keine überzeu-
gende Antwort finden und das „Dionysische“ in den Verdacht geraten könnte,
es handle sich nur um „Romantik“. Dies umso mehr, als die Tragödienschrift
die dem Konzept des Dionysischen entsprechende Musik Wagners gepriesen
 
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