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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0061
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40 Die Geburt der Tragödie

kritik. Außerdem ersetzt er das huldigende Vorwort an Richard Wagner durch
den Versuch einer Selbstkritik, in dem, wie es in einem Brief an Bernhard und
Elisabeth Förster vom 2. September 1886 heißt, „ich meiner Wagnerei und
Romantik von Ehedem gründlich die Wahrheit gesagt habe“ (KSB 7, Nr. 741,
S. 239, Z. 20 f.).
Mit welchen Gefühlen und welcher Selbsteinschätzung N. das Erscheinen
seines Erstlings wahrgenommen hatte, geht aus Versen hervor, die er unter
dem Datum „Basel, am Neujahrstage 1872“ auf das Deckblatt seines persönli-
chen Exemplars schrieb. Sie lauten:
Schaff, das Tagwerk meiner Hände,
Grosser Geist, dass ich’s vollende.
Die Verse stammen, in signifikant abgewandelter Form, aus einem kleinen
Gedicht des jungen Goethe, das er in der ersten Weimarer Zeit verfaßt hatte:
Hoffnung
Schaff, das Tagwerk meiner Hände,
Hohes Glück, daß ich’s vollende!
Laß, o laß mich nicht ermatten!
Nein es sind nicht leere Träume;
Jetzt nur Stangen, diese Bäume
Geben einst noch Frucht und Schatten.
Diese Verse fand N. in Bd. 1 seiner vierzigbändigen Goethe-Ausgabe, Stuttgart
u. Augsburg 1855, S. 82 (=FA, Bd. 1, S. 305). Sie beziehen sich auf Goethes
eigene Baumpflanzungen im Garten an der Ilm. Im Tagebuch vermerkte er am
1.11.1776: „Linden gepflanzt“. Am 8.11.1777 schrieb er an Charlotte von Stein:
„Hernach fand ich daß das Schicksal da es mich hierher pflanzte vollkommen
gemacht hat, wie mans den Linden tut man schneidet ihnen den Gipfel weg
und alle schöne Äste daß sie neuen Trieb kriegen sonst sterben sie von oben
herein. Freilich stehn sie die ersten Jahre wie Stangen da“. N. verlieh den Ver-
sen aus Goethes kleinem Gelegenheitsgedicht, obwohl er sie als Zitat in Anfüh-
rungszeichen setzte, einen anderen Sinn, indem er nicht nur die beiden
Anfangsverse separierte, sondern vor allem Goethes Worte „Hohes Glück“
durch die Wendung „Grosser Geist“ ersetzte. Damit wollte er sich als Genie
verstehen, dem durch den „grossen Geist“ eine Inspiration zuteilgeworden ist,
auf die er auch künftig Anspruch erhebt. Zur Bekräftigung schrieb N. unter die
Verse seine Initialen: F N. Während der Entstehungszeit der Tragödienschrift
 
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