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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0064
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Überblickskommentar: Quellen 43

Geschichte des griechischen und römischen Drama’s, Leipzig 1865. Darin fand
er das Begriffspaar Apollinisch-Dionysisch programmatisch exponiert. Mindes-
tens ebenso wichtig war für die Konzeption seiner Tragödienschrift die von
J. L. Klein vorgenommene Verbindung des Apollinischen und des Dionysischen
speziell im Hinblick auf die griechische Tragödie (vgl. den Kommentar zu 25,
4-6).
N.s Konzeption des Dionysischen, die über diese bipolare Konstellation
von „Kunsttrieben“ hinaus seine Kunst-Metaphysik bestimmt und die er auch
in dem Versuch einer Selbstkritik von 1886 als zentral definiert, hat ebenfalls
einen Einzugsbereich von Quellen. Sie lassen die Romantisierung des Dionysos
seit Beginn des 19. Jahrhunderts erkennen. N. zog Georg Friedrich Creuzers
vierbändige Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen
heran, ein Werk, das man geradezu als „Bibel der Romantik“ bezeichnet hat,
weil es die griechische Mythologie mit dem - von Goethe abgelehnten, aber
von Schelling geschichtsphilosophisch-spekulativ ausgebauten - dreifachen
romantischen Interesse am Mysterienwesen, am Orientalischen und am Indi-
schen verband. Creuzer, der in seinen gelehrten Anmerkungen einen reichen
Fundus von antiken Dionysos-Überlieferungen und Mythologemen bot, interes-
sierte sich besonders für die spätantike neuplatonische Spekulation, welche
die mythologische Überlieferung theologisierend ausdeutete und mit kosmolo-
gischen Allegoresen versah. In diesen neuplatonischen Schriften (Plotin, Pro-
klos, Olympiodoros) spielt gerade die Konstellation Apollon - Dionysos unter
dem Gesichtspunkt der individuatio und der Entindividualisierung eine Rolle.
Dies ließ sich gut mit Schopenhauers Theorien ins Verhältnis setzen.
Creuzer widmete fast den ganzen dritten Band seines Werks dem Dionysos.
Er bezeichnete ihn als „Gott der Götter“ und erhob ihn erstmals zur Zentralfi-
gur der ganzen griechischen Mythologie. Diese romantische und romantisie-
rende Aufwertung des Dionysos markierte einen Paradigmenwechsel gegen-
über der von Winckelmann (mit seinem berühmten Hymnus auf den Apoll
vom Belvedere) inaugurierten „apollinisch“-klassizistischen Konturierung der
griechischen Kultur, die auch im 19. Jahrhundert noch lange fortwirkte. N.
reflektierte in seiner Tragödienschrift und in nachgelassenen Notizen aus deren
Entstehungszeit den Paradigmenwechsel und machte ihn sich trotz seiner Ver-
bindung von Apollinischem und Dionysischem weitgehend zueigen. In diesem
Spannungsfeld spielen auch Winckelmanns Schriften als Quelle immer wieder
direkt und indirekt in die Tragödienschrift herein (vgl. den Kommentar zu 28,
1-4, zu 28, 4 f. und zu 155, 27-156). Auf Creuzers Symbolik und Mythologie weist
nicht zuletzt N.s „symbolisches“ Verfahren im Umgang mit der griechischen
Mythologie zurück. Das von Creuzers romantischer „Symbolik“ ausgehende
Interesse weniger an der historischen Überlieferung als an der „symbolisch“-
 
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