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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0067
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46 Die Geburt der Tragödie

net und ihm daher nicht mehr die richtigen Maßstäbe zubilligt. Im Gegensatz
zu der Theorie vom Niedergang der Tragödie stellt Aristoteles, und darin
stimmte die gesamte wissenschaftliche Tradition mit ihm überein, die
Geschichte der Tragödie als eine Entwicklung zur vollendeten Form dar (Poetik
1449 a 15), die sie bei Sophokles und Euripides gefunden habe. Diese Entwick-
lung kam Aristoteles zufolge durch die volle Entfaltung des Dialogs zustande,
also gerade durch das Element, das N. als Symptom des Niedergangs verurteilt,
weil er in seiner archaisierenden Argumentation der Musik nicht nur geschicht-
lich den Vorrang zuerkennt, sondern sie auch zum einzig Wesentlichen dekla-
riert. Auch den Schwerpunkt der Aristotelischen Tragödienpoetik lehnt er ab:
die Konzentration auf die Handlung und deren strukturbildende Elemente, das
eigentlich Dramatische also. Dieses ist für N. ebenfalls schuld an der Marginali-
sierung der „Musik“ und ihres gefühlshaft aufgeladenen „Pathos“, das er im
Wortsinn als „Leiden“ mit Schopenhauerschen Kategorien auf die mystische
Identifikation mit dem metaphysischen, leiderfüllten „Urgrund“ zurückbezieht.
Für die Kapitelsequenz über Sokrates und den Sokratismus (12-13) griff N.
auf Platon zurück, dessen Dialoge insofern eine notwendigerweise immer wie-
der zitierte Quelle sind, als sie trotz der Platonischen Überformung wichtige
Mitteilungen über die Aussagen, das Verhalten und den Tod des Sokrates ent-
halten. Davon macht N. reichlich und mit genauer Quellenkenntnis Gebrauch,
jedoch ohne von seinem ganz im Gegensatz zu Platons Dialogen stehenden,
weil grundsätzlich negativen Sokratesbild abzurücken. Vollends versucht er
mit dem negativ besetzten Begriff des „Sokratismus“ die durch eine lange Tra-
dition geheiligte Sokrates-Figur vom Sockel zu stürzen. Sokrates ist für ihn ein
Exponent des Niedergangs. Darin blieb Aristophanes für ihn maßgebend, und
er radikalisierte dessen Abwertung des Sokrates noch aus dem fundamental
irrationalistischen Ansatz seiner Erstlingsschrift. Eine weitere Quelle für seine
Ausführungen über Sokrates, wenn auch nicht für die negative Wertung, war
die Schrift des spätantiken Handbuchverfassers Diogenes Laertius über Leben
und Meinungen der Philosophen.
Unter den anderen Quellen fällt durch direkte Nennung Schiller auf, des-
sen Vorrede zur Braut von Messina (Über den Gebrauch des Chors in der Tragö-
die) N. ebenso rezipierte wie die Abhandlung Über den Grund des Vergnügens
an tragischen Gegenständen, die Theorie des Erhabenen und Pathetischen
sowie die Vorstellung einer „ästhetischen Erziehung“. Diese liegt den Hoffnun-
gen zugrunde, die sich mit Wagner verbinden und sich über die „Wiederge-
burt“ der Tragödie hinaus auf eine kulturelle Erneuerung richten. Eine Notiz
aus der Entstehungszeit der Tragödienschrift lautet: „Ästhetische Erziehung
des Menschengeschlechtes“ (NL 1870/1871/1872, KSA 7, 8[88], 255, 17). Ähnlich
wie die Berufungen auf Goethe sind auch diejenigen auf Schiller immer wieder
von Mißverständnissen oder Entstellungen beeinträchtigt (vgl. NK 55, 12-18).
 
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