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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0098
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Überblickskommentar: Wirkung 77

auch von einem Studenten berichtet worden, der erst nach Basel kommen
wollte [...] und nun an einen Basler Verwandten schrieb, er danke Gott nicht
an eine Universität gegangen zu sein, wo i c h Lehrer sei“ (KSB 4, Nr. 274, S. 89,
Z. 2 u. S. 90, Z. 1).
Schon in der Tragödienschrift selbst war N. gegen das „Wissen“ und die
„Wissenschaft“ wie überhaupt gegen den im Zeichen des Rationalen und der
„Erkenntniß“ stehenden „Sokratismus“ zu Felde gezogen. Nun führte die Aus-
einandersetzung mit den Vertretern der Wissenschaft vollends zu einem Selbst-
klärungsprozeß, der ebenfalls zur ,Wirkung4 der Tragödienschrift gehört: zur
Wirkung bei N. selbst. Er wandte sich von der Wissenschaft ab und verstand
sich als philosophierenden Dichter mit einer kulturellen Mission in einer Zeit
des vom Niedergang bedrohten „Lebens“. „Die Bändigung der Wissen-
schaft geschieht jetzt nur noch durch die Kun s t “, notierte er zur gleichen
Zeit, und weiter: „Ungeheure Aufgabe und Würde der Kunst in
dieser Aufgabe! Sie muß alles neu schaffen und ganz allein das
Leben neu gebären!“ (NL 1872/1873, KSA 7, 19[36], 428, 28-429, 1). Die
Philosophie, zu der er sich berufen sah, bezeichnete er als „eine Form der
Dichtkunst“ (NL 1872/1873, KSA 7, 19[62], 439, 5). So verabschiedete sich N. im
Zuge der Auseinandersetzungen um seine Tragödienschrift von seiner Zunft
und von seiner Wissenschaft, während seine Schrift für lange Zeit sowohl in
der Fachwelt wie beim Publikum in Vergessenheit geriet. Auch der prominen-
teste Musikkritiker des 19. Jahrhunderts, Eduard Hanslick, den Verdi den „Bis-
marck der Musikkritik“ nannte, kam zu einem vernichtenden Urteil. In einer
Besprechung konstatierte er: „Man glaubt in einem Narrenhaus zu sein“
(hierzu genauer NK 127, 22-27). Nur in wenigen Zirkeln fand N.s Erstling bereits
während der Siebziger Jahre eine günstige Aufnahme, so im österreichischen
Pernerstorfer-Kreis, dem spätere Berühmtheiten wie Gustav Mahler, der junge
Sigmund Freud und Viktor Adler angehörten. N.s Kritik der zeitgenössischen
Gesellschaft, die Suche nach einer alternativen „dionysischen“ Lebensform,
der unbedingte Anspruch einer totalisierten „Kultur“ - das alles wurde in die-
sem Kreis zustimmend registriert (vgl. William McGrath: Dionysian Art and
Populist Politics in Austria, New Haven, Conn. und London: Yale University
Press 1974).
Erst als N. im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, in dem er selbst in
geistige Umnachtung versank, plötzlich zum Mode-Autor aufstieg, gewann
auch die Geburt der Tragödie Aktualität. Als schwer lesbares und weitschweifi-
ges Werk zwar, das noch dazu trotz seiner Angriffe auf das „Wissen“ und die
„Wissenschaft“ schwer befrachtet mit altphilologischer Gelehrsamkeit war,
konnte es kaum durch seine philologischen, philosophischen und ästhetischen
Thesen Anklang finden. Walter Benjamin ging in seiner 1916 entworfenen und
 
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