78 Die Geburt der Tragödie
1925 verfaßten Abhandlung Ursprung des deutschen Trauerspiels (in: Walter
Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann
Schweppenhäuser, Bd. I, 1, Frankfurt 1974) kritisch auf N.s Erstlingswerk ein.
Er wirft ihm den „Verzicht auf eine geschichtsphilosophische Erkenntnis des
Mythos der Tragödie“ zugunsten eines bloßen Ästhetizismus vor, für den er als
Zentralbeleg N.s Satz anführt: „denn nur als ästhetisches Phänomen ist das
Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“. Er folgert: „Der Abgrund des Ästheti-
zismus tut sich auf [...] so daß Götter und Heroen, Trotz und Leid, die Pfeiler
des tragischen Baus, in nichts sich verflüchtigen. Wo die Kunst dergestalt die
Mitte des Daseins bezieht, daß sie den Menschen zu ihrer Erscheinung macht,
anstatt gerade ihn als ihren Grund - nicht als ihren Schöpfer, sondern sein
Dasein als den ewigen Vorwurf ihrer Bildungen - zu erkennen, entfällt die
nüchterne Besinnung überhaupt“ (S. 281 f.).
Umso stärker aber wirkten einige gerade nicht auf ,nüchterne Besinnung4
angelegte Begriffsschablonen: das „Dionysische“, als dessen Entdecker sich N.
ausgegeben hatte, und die schon am Beginn mit rhetorischer Emphase expo-
nierte Polarität des Dionysischen und des Apollinischen. Der Kontext und die
Zusammenhänge des Werks, auf denen diese Vorstellungen aufruhten, verloren
sich in der Rezeption, die begrifflichen Konturen entschwanden immer mehr
ins Diffuse. Was blieb, war der anti-dekadente Kult des „Lebens“, den N. nach
den ersten Ansätzen (vor allem am Ende des 20. Kapitels der Geburt der Tragö-
die) in seinen späten Schriften als ,Lebens-Philosophie4 im Zeichen des diony-
sischen4 verkündete. Zuerst die Fin de siecle-Stimmung und das Leiden am
allgegenwärtigen Decadence-Syndrom, dann die Jugendbewegung und die
Revolte gegen bürgerliche Konventionen und traditionelle Moralvorstellungen
begünstigten die Inszenierung eines „dionysischen“ Lebenskults, der Aufbruch
und Befreiung zu verheißen schien. Nicht umsonst war „Erlösung“ schon bei
N. selbst und dann vollends in den folgenden Jahrzehnten ein Kennwort dieses
Verheißungs- und Verkündigungspathos bis weit in den Expressionismus
hinein. Vitalismus und freie Erotik ebenso wie Münchner Karnevals-Boheme
bemächtigten sich des „Dionysischen“. Der Münchner ,Kosmikerkreis4 mit Lud-
wig Klages, Alfred Schuler und Karl Wolfskehl propagierte „glühendes Leben“
im Namen des Dionysos. Am 22. Februar 1903 lud Wolfskehl zu einem dionysi-
schen „Gottesdienst“ in München ein, bei dem er selbst als Dionysos auftrat
und seine Gäste als Bacchantinnen und Bacchanten das Gefolge bildeten. Dio-
nysos wurde zur Leitfigur eines kompensatorischen Lebenskults. Inwiefern es
sich um eine direkt auf die Geburt der Tragödie zurückgehende Wirkungsge-
schichte handelt, ist schwer einzuschätzen, denn N. formte erst in seinen Spät-
schriften, zu denen auch der 1886 entstandene Versuch einer Selbstkritik
gehört, das „Dionysische“ zu einem ideologischen Mythogramm der Moderne,
1925 verfaßten Abhandlung Ursprung des deutschen Trauerspiels (in: Walter
Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann
Schweppenhäuser, Bd. I, 1, Frankfurt 1974) kritisch auf N.s Erstlingswerk ein.
Er wirft ihm den „Verzicht auf eine geschichtsphilosophische Erkenntnis des
Mythos der Tragödie“ zugunsten eines bloßen Ästhetizismus vor, für den er als
Zentralbeleg N.s Satz anführt: „denn nur als ästhetisches Phänomen ist das
Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“. Er folgert: „Der Abgrund des Ästheti-
zismus tut sich auf [...] so daß Götter und Heroen, Trotz und Leid, die Pfeiler
des tragischen Baus, in nichts sich verflüchtigen. Wo die Kunst dergestalt die
Mitte des Daseins bezieht, daß sie den Menschen zu ihrer Erscheinung macht,
anstatt gerade ihn als ihren Grund - nicht als ihren Schöpfer, sondern sein
Dasein als den ewigen Vorwurf ihrer Bildungen - zu erkennen, entfällt die
nüchterne Besinnung überhaupt“ (S. 281 f.).
Umso stärker aber wirkten einige gerade nicht auf ,nüchterne Besinnung4
angelegte Begriffsschablonen: das „Dionysische“, als dessen Entdecker sich N.
ausgegeben hatte, und die schon am Beginn mit rhetorischer Emphase expo-
nierte Polarität des Dionysischen und des Apollinischen. Der Kontext und die
Zusammenhänge des Werks, auf denen diese Vorstellungen aufruhten, verloren
sich in der Rezeption, die begrifflichen Konturen entschwanden immer mehr
ins Diffuse. Was blieb, war der anti-dekadente Kult des „Lebens“, den N. nach
den ersten Ansätzen (vor allem am Ende des 20. Kapitels der Geburt der Tragö-
die) in seinen späten Schriften als ,Lebens-Philosophie4 im Zeichen des diony-
sischen4 verkündete. Zuerst die Fin de siecle-Stimmung und das Leiden am
allgegenwärtigen Decadence-Syndrom, dann die Jugendbewegung und die
Revolte gegen bürgerliche Konventionen und traditionelle Moralvorstellungen
begünstigten die Inszenierung eines „dionysischen“ Lebenskults, der Aufbruch
und Befreiung zu verheißen schien. Nicht umsonst war „Erlösung“ schon bei
N. selbst und dann vollends in den folgenden Jahrzehnten ein Kennwort dieses
Verheißungs- und Verkündigungspathos bis weit in den Expressionismus
hinein. Vitalismus und freie Erotik ebenso wie Münchner Karnevals-Boheme
bemächtigten sich des „Dionysischen“. Der Münchner ,Kosmikerkreis4 mit Lud-
wig Klages, Alfred Schuler und Karl Wolfskehl propagierte „glühendes Leben“
im Namen des Dionysos. Am 22. Februar 1903 lud Wolfskehl zu einem dionysi-
schen „Gottesdienst“ in München ein, bei dem er selbst als Dionysos auftrat
und seine Gäste als Bacchantinnen und Bacchanten das Gefolge bildeten. Dio-
nysos wurde zur Leitfigur eines kompensatorischen Lebenskults. Inwiefern es
sich um eine direkt auf die Geburt der Tragödie zurückgehende Wirkungsge-
schichte handelt, ist schwer einzuschätzen, denn N. formte erst in seinen Spät-
schriften, zu denen auch der 1886 entstandene Versuch einer Selbstkritik
gehört, das „Dionysische“ zu einem ideologischen Mythogramm der Moderne,