Metadaten

Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0112
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar GT 1, KSA 1, S. 25 91

entgegen, denen er eine schöpferische Qualität und intensive lebendige Erfah-
rungsmöglichkeiten zuspricht. „Während der von Begriffen und Abstractionen
geleitete Mensch durch diese das Unglück nur abwehrt, ohne selbst aus den
Abstraktionen sich Glück zu erzwingen [...], erntet der intuitive Mensch, inmit-
ten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intuitionen, äusser der Abwehr
des Uebels eine fortwährend einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung.
Freilich leidet er heftiger, wenn er leidet; ja er leidet auch öfter, weil er aus
der Erfahrung nicht zu lernen versteht“ (889, 27-890,1). In einer anderen nach-
gelassenen Frühschrift: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen legt
N. den von ihm bevorzugten Heraklit ganz auf Intuition und gegen „Begriffe“
und „logisches“ Denken fest: „Heraklit hat als sein königliches Besitzthum die
höchste Kraft der intuitiven Vorstellung; während er gegen die andre Vorstel-
lungsart, die in Begriffen und logischen Combinationen vollzogen wird, also
gegen die Vernunft sich kühl, unempfindlich, ja feindlich zeigt und ein Vergnü-
gen zu empfinden scheint, wenn er ihr mit einer intuitiv gewonnenen Wahrheit
widersprechen kann“ (KSA 1, 823,12-17). Als Antipode Heraklits erscheint Aris-
toteles, als moderner Geistesverwandter Schopenhauer.
25, 4-6 dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des Apollini-
schen und des Dionysischen gebunden ist] Zunächst plante N. eine eigene
Abhandlung zu diesem Thema. Am 7. Juni 1871 schrieb er an den Freund Erwin
Rohde: „Ein anderes Stück [aus der im Entstehen begriffenen Tragödienschrift]
,über das Dionysische und Apollinische4 wird wohl in den preußischen Jahrbü-
chern4 erscheinen; falls man es annimmt, woran ich zweifle“ (KSB 3, Nr. 135,
S. 197, Z. 51-53). Die übergreifende Bedeutung hob er in einem Brief vom
4. August an Rohde hervor: „In der That glaube ich viel aus dem Gegensätze
des Dionysischen und Apollinischen ableiten zu können“ (KSB 3, Nr. 149, S. 215,
Z. 28 f.). Die eigentliche „Fortentwickelung der Kunst“ aus der „Duplicität“ des
Apollinischen und des Dionysischen skizziert N. klarer und konziser in einer
der Vorstufen zu GT: Die Geburt des tragischen Gedankens, KSA 1, 584, 3-30.
Die polare Konstellation der Begriffe „apollinisch“ und „dionysisch“ ist
zwar erst durch N.s Tragödienschrift zu einem allgemeineren Bildungsgut
geworden, aber sowohl die Polarität der Götter Apollon und Dionysos wie dieje-
nige der davon abgeleiteten Adjektive gab es schon vor N. Präformiert ist sie
bereits in der Antike, so bei dem bis weit in die Neuzeit hinein vielgelesenen
Plutarch (etwa 45 bis 125 n. Chr.) in dessen Schrift Über das E in Delphi (389 c).
N. zog sie für seine Vorlesung Die griechischen Lyriker (SS 1869) in der Überset-
zung von Hartung (1856) heran und zitierte aus ihr. Sie ist der Schlüsseltext,
von dem alles Spätere direkt oder indirekt abhängt. Plutarch wirkte mehr als
20 Jahre lang als Apollonpriester in Delphi, er verfaßte mehrere Schriften über
den delphischen Gott und seine Orakel sowie gewisse Besonderheiten, darun-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften