92 Die Geburt der Tragödie
ter das rätselhafte große E an der Front des Apollon-Tempels. Daher der Titel
seiner Schrift. In Delphi wechselte der während der Sommermonate aktuelle
Kult des Apollon mit dem des Dionysos, dem Gott der Wintermonate (auf diese
jahreszeitlich organisierte kultische Ordnung geht N. in der GT-Vorstufe Die
Geburt des tragischen Gedankens explizit ein, KSA 1, 584,14-18). Entsprechend
wurde in den Wintermonaten statt des dem Apollon zugedachten kultischen
Gesangs, des Paiäns, der dem Dionysos zugeordnete Dithyrambos gesungen.
Nach dem Bericht, den der Reiseschriftsteller Pausanias in seiner Beschreibung
Griechenlands gibt (X, 19, 4), stellten die Giebelfelder des Apollontempels in
Delphi auf der einen Seite Apollon mit seiner Mutter Leto, seiner Schwester
Artemis und den Musen dar, auf der anderen Seite Dionysos mit den von ihm
in Wahnsinn versetzten Weibern, den Mänaden. Aufgrund dieser Konstellation
bringt Plutarch in seiner Schrift Über das E in Delphi die beiden Götter in einen
komplementären Zusammenhang, wie später N. in GT. Schon Plutarch beruft
sich auf spekulative Ausdeutungen, auf die noch Georg Friedrich Creuzer in
seinem für die romantische Mythologie maßgebenden vierbändigen Werk Sym-
bolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (1. Aufl. 1810/12;
2. Aufl. 1819/21) zurückgriff. Creuzers große Darstellung, deren 3. Band er fast
ganz dem Dionysos widmete, war eine von N.s Quellen während der Abfassung
der Tragödienschrift. Er entlieh gerade den 3. Band in dieser Zeit (am 18.6.1871)
aus der Universitätsbibliothek Basel. Bereits in Plutarchs Schrift zeichnen sich
die kategorialen Oppositionen ab, die später zu den Begriffen „apollinisch“ und
„dionysisch“ führten. Das Adjektiv „dionysisch“ wurde ohnehin schon längst
aus der entsprechenden Verwendung im Griechischen hergeleitet. Das Theater
am Fuße der Akropolis in Athen nannten antike Autoren, so Plutarch in seinen
Parallelen Lebensläufen (X), das „Dionysische Theater“ (tö AiovvaiotKÖv
OeoiTpov).
In der deutschen Literatur, Ästhetik und Altertumswissenschaft erhielten
Apollon und Dionysos bereits vor N. eine allgemeinere kulturelle Bedeutung.
Durch Winckelmanns berühmte Prosahymne auf den Apollo vom Belvedere in
seiner Geschichte der Kunst des Alterthums wurde Apollon zum Orientierungs-
muster einer „apollinisch“-klassizistisch geprägten Rezeption der griechischen
Kultur; Hölderlin, ein Lieblingsautor N.s, stellte aus bereits frühromantischem
Geist Dionysos ins Zentrum einer Reihe von geschichtsphilosophischen und
poetologischen Gedichten. Seine große Elegie Brot und Wein, die bedeutendste
neuzeitliche Dionysos-Dichtung, ist ganz vom Dionysos-Mythos her konzipiert.
Creuzer trieb dann einen typisch romantischen Dionysos-Kult. In seiner schon
genannten, weit ins 19. Jahrhundert ausstrahlenden Symbolik und Mythologie
der alten Völker, besonders der Griechen erhob er Dionysos zum „Gott der Göt-
ter“ (im 3. Band dieses Werks, S. 137). Die von ihm so genannten „Bacchischen
ter das rätselhafte große E an der Front des Apollon-Tempels. Daher der Titel
seiner Schrift. In Delphi wechselte der während der Sommermonate aktuelle
Kult des Apollon mit dem des Dionysos, dem Gott der Wintermonate (auf diese
jahreszeitlich organisierte kultische Ordnung geht N. in der GT-Vorstufe Die
Geburt des tragischen Gedankens explizit ein, KSA 1, 584,14-18). Entsprechend
wurde in den Wintermonaten statt des dem Apollon zugedachten kultischen
Gesangs, des Paiäns, der dem Dionysos zugeordnete Dithyrambos gesungen.
Nach dem Bericht, den der Reiseschriftsteller Pausanias in seiner Beschreibung
Griechenlands gibt (X, 19, 4), stellten die Giebelfelder des Apollontempels in
Delphi auf der einen Seite Apollon mit seiner Mutter Leto, seiner Schwester
Artemis und den Musen dar, auf der anderen Seite Dionysos mit den von ihm
in Wahnsinn versetzten Weibern, den Mänaden. Aufgrund dieser Konstellation
bringt Plutarch in seiner Schrift Über das E in Delphi die beiden Götter in einen
komplementären Zusammenhang, wie später N. in GT. Schon Plutarch beruft
sich auf spekulative Ausdeutungen, auf die noch Georg Friedrich Creuzer in
seinem für die romantische Mythologie maßgebenden vierbändigen Werk Sym-
bolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (1. Aufl. 1810/12;
2. Aufl. 1819/21) zurückgriff. Creuzers große Darstellung, deren 3. Band er fast
ganz dem Dionysos widmete, war eine von N.s Quellen während der Abfassung
der Tragödienschrift. Er entlieh gerade den 3. Band in dieser Zeit (am 18.6.1871)
aus der Universitätsbibliothek Basel. Bereits in Plutarchs Schrift zeichnen sich
die kategorialen Oppositionen ab, die später zu den Begriffen „apollinisch“ und
„dionysisch“ führten. Das Adjektiv „dionysisch“ wurde ohnehin schon längst
aus der entsprechenden Verwendung im Griechischen hergeleitet. Das Theater
am Fuße der Akropolis in Athen nannten antike Autoren, so Plutarch in seinen
Parallelen Lebensläufen (X), das „Dionysische Theater“ (tö AiovvaiotKÖv
OeoiTpov).
In der deutschen Literatur, Ästhetik und Altertumswissenschaft erhielten
Apollon und Dionysos bereits vor N. eine allgemeinere kulturelle Bedeutung.
Durch Winckelmanns berühmte Prosahymne auf den Apollo vom Belvedere in
seiner Geschichte der Kunst des Alterthums wurde Apollon zum Orientierungs-
muster einer „apollinisch“-klassizistisch geprägten Rezeption der griechischen
Kultur; Hölderlin, ein Lieblingsautor N.s, stellte aus bereits frühromantischem
Geist Dionysos ins Zentrum einer Reihe von geschichtsphilosophischen und
poetologischen Gedichten. Seine große Elegie Brot und Wein, die bedeutendste
neuzeitliche Dionysos-Dichtung, ist ganz vom Dionysos-Mythos her konzipiert.
Creuzer trieb dann einen typisch romantischen Dionysos-Kult. In seiner schon
genannten, weit ins 19. Jahrhundert ausstrahlenden Symbolik und Mythologie
der alten Völker, besonders der Griechen erhob er Dionysos zum „Gott der Göt-
ter“ (im 3. Band dieses Werks, S. 137). Die von ihm so genannten „Bacchischen