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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0128
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Stellenkommentar GT 1, KSA 1, S. 26-27 107

Hier werden wir also sagen müssen, daß in der Traumbildung sich ein offenba-
res Uebergewicht findet des allgemeinen Lebens und desjenigen in dem Sein
was das allgemeine Leben repräsentirt über das persönliche“, und er fährt
fort: „so erscheint von dieser Seite angesehen der Traum als Zurükktreten des
einzelnen Lebens und als Hervortreten des allgemeinen psychischen Lebens“
(Friedrich Schleiermacher’s literarischer Nachlaß. In: Friedrich Schleiermachers
sämmtliche Werke III, 6, Berlin 1862, S. 359 und S. 360). Schopenhauers Aus-
führungen zum Traum stehen im Kontext der romantischen Psychologie, er
betont aber zugleich, wie im Anschluß an ihn dann auch N., die physiologi-
schen Voraussetzungen des Träumens (vgl. NK 26, 3). Wagner mit seinen an
Schopenhauer orientierten Ausführungen über den Traum in der Beethoven-
Festschrift und N. liegen auf der Linie, die von Novalis bis hin zu Freuds epo-
chaler Schrift Die Traumdeutung (1900) führt. Schuberts Buch über Die Nacht-
seiten der Naturwissenschaft wirkte zusammen mit der romantischen Traum-
dichtung bahnbrechend auf Freuds Psychoanalyse ein.
Als erster hatte sich Aristoteles systematisch gerade mit der Physiologie
des Traumes beschäftigt. Er tat dies, um die im Altertum verbreitete Vorstellung
zurückzuweisen, Traumerscheinungen seien von den Göttern gesandt. In
Traumbildern sieht er Überreste von Sinneswahrnehmungen, die im Wachen
stattfanden (De insomn. 459a 19 f., 461b 21 f., 459a 24 ff., 460a 32 ff.). Obwohl
N. prinzipiell an physiologischen Erklärungsmustern festhielt, die sich im
19. Jahrhundert modernisiert fortsetzten, verfolgt er das romantische Interesse
am Geheimnisvoll-Unbewußten weiter. Vor allem überformt er den physiologi-
schen Ansatz unter entschieden produktionsästhetischen Gesichtspunkten
gegen die auf ein Verständnis von Kunst als Mimesis hinauslaufende Theorie
des Aristoteles. N. spricht von den „Traumwelten, in deren Erzeugung jeder
Mensch voller Künstler ist“ und von der „Voraussetzung aller bildenden
Kunst“. Weil ihm nicht an einer unbewußten Nachahmung, sondern am künst-
lerischen Schaffen liegt, deutet er die von ihm betonten „physiologischen“
Vorgänge im Sinn einer generativen und produktiven Dynamik um. Diese über-
geordnete Tendenz kommt programmatisch in der Titel-Vignette der Tragödien-
schrift zum Ausdruck, in der Gestalt des Prometheus, des titanischen Men-
schen-Bildners.
Allerdings verändert N. in der von ihm entworfenen Konstellation Traum -
Rausch die Valenz des Traumes gegenüber der romantischen Tradition, indem
er ihn mit dem Begriff der „Vorstellung“ analogisiert, wie ihn Schopenhauer
in der Welt als Wille und Vorstellung entwickelt. Gegenüber dem - „dionysisch“
interpretierten - „Rausch“, den er mit Schopenhauers „Willen“ analogisiert,
weist er dem Traum einen bloß scheinhaften Status zu.
26, 30-27, 8 Der philosophische Mensch [...] erfährt.] Textvariante in Ed1: „Wo
diese Scheinempfindung völlig aufhört, beginnen die krankhaften und patho-
 
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