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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0131
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110 Die Geburt der Tragödie

176,10-14: „Wer möchte diesen Untergrund des hellenischen Wesens in seinen
Kunstdenkmälern verkennen! Jene stille Einfalt und edle Würde, die Winckel-
mann begeisterte, bleibt etwas Unerklärliches, wenn man das in der Tiefe fort-
wirkende metaphysische Mysterienwesen außer Acht läßt“.
28, 5 f. jene Freiheit von den wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des
Bildnergottes.] Hier kommt das klassizistische Ideal der „edlen Einfalt und stil-
len Größe“ zum Vorschein, das Winckelmann in seiner epochemachenden Erst-
lingsschrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Male-
rei und Bildhauerkunst formuliert und in seiner Geschichte der Kunst des
Alterthums (1. Auflage Dresden 1764) auf den Apollo vom Belvedere angewandt
hatte: „Weder schlagende Adern, noch wirksame Nerven erhitzen und bewegen
diesen Körper. Ein himmlischer Geist, der sich wie ein sanfter Strom ergossen,
hat die ganze Umschreibung dieser Figur, die er selbst bildet, angefüllt. Er hat
den Python mit Pfeilen, die nicht fehlen können, erlegt, und siehet auf das
Ungeheuer von der Höhe seiner Genügsamkeit, wie vom Olympos, herab mit
einem Blick, unter welchem alle menschliche Größe sinket und verschwindet“
(J. J. Winckelmann: Werke, Stuttgart 1847, Bd. 2, S. 324). Im Kontext seiner
durchgehenden Schopenhauer-Orientierung dürfte N. bei der zu erläuternden
Stelle auch einen Passus in der Welt als Wille und Vorstellung im Sinne gehabt
haben, der auf Winckelmanns Beschreibung des Apollo vom Belvedere
anspielt. Darin heißt es: „Diesen menschlichen Vorzug [der geistigen Freiheit]
stellt im höchsten Grade der Apoll von Belvedere dar: das weitumherblickende
Haupt des Musengottes steht so frei auf den Schultern, daß es dem Leibe ganz
entwunden, der Sorge für ihn nicht mehr unterthan erscheint“ (I, 3. Buch,
§ 33 - Frauenstädt, Bd. 2, S. 209).
28, 6 f. Sein Auge muss „sonnenhaft“ [...] sein] Anspielung auf Plotin, Hepi
tov koiAov, Enneaden, 1.6.: ov ydp dv ttcüttote e’iöev öcpöaApöq pAiov pAioEiöftq
PP yeyevppevoq, ovöe to KotAöv av i'öoi tpvxh PH KaAp yevopevp.
In Goethes lyrischer Übersetzung: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, / Wie
könnten wir das Licht erblicken? / Lebt’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, /
Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?“ (Goethe, Einleitung zur Farbenlehre).
28,10 f. von dem im Schleier der Maja befangenen Menschen] In der Welt als
Wille und Vorstellung I, Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie, behauptet
Schopenhauer, eine der „Hauptlehren der Veden und Puranas, die Lehre von
der Maja“ entspreche Kants Unterscheidung der Erscheinung von dem Ding an
sich: „denn das Werk der Maja wird eben angegeben als diese sichtbare Welt,
in der wir sind ein [...] an sich wesenloser Schein, der optischen Illusion und
dem Traume zu vergleichen, ein Schleier, der das menschliche Bewußtseyn
umfängt, ein Etwas, davon es gleich falsch und gleich wahr ist, zu sagen daß
 
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