Stellenkommentar GT 1, KSA 1, S. 26-28 109
ein spekulatives Denken, das auf Analogien beruht, gepaart mit der Verwen-
dung des schwer zu fassenden Begriffs „symbolisch“. Daß die Künste das
Leben möglich und lebenswert machen, entspricht Schopenhauers Konzept in
der Welt als Wille und Vorstellung, demzufolge der als „Wille“ bezeichnete
unselige, leidensvolle Daseinsgrund sich durch die von ihm selbst hervorge-
brachte Sphäre des schönen Scheins, der künstlerischen „Vorstellungen“, ent-
lastet und so das Leben erträglich macht.
28,1-4 Aber auch jene zarte Linie, die das Traumbild nicht überschreiten darf,
um nicht pathologisch zu wirken, widrigenfalls der Schein als plumpe Wirklich-
keit uns betrügen würde - darf nicht im Bilde des Apollo fehlen] Wie in den
folgenden Zeilen adaptiert N. hier für seinen Zweck Vorstellungen Winckel-
manns, der in seinen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke
in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) eine ganze Partie dem „Kontur“ wid-
met, d. h. der Linie, die eine Gestalt begrenzt. In diesem Zusammenhang
schreibt er: „Der edelste Contour vereiniget oder umschreibet alle Theile der
schönsten Natur und der Idealischen Schönheiten in den Figuren der Grie-
chen“, um dann diese „Linie“ seinem klassizistischen Ideal gemäß gegen baro-
cke und naturalistische Maß-Verletzungen folgendermaßen zu charakterisie-
ren: „Die Linie, welche das Völlige der Natur von dem Überflüßigen derselben
scheidet, ist sehr klein, und die grössten neueren Meister [vorher ist kritisch
von Rubens die Rede] sind über diese nicht allezeit greifliche Grentze auf bey-
den Seiten zu sehr abgewichen. Derjenige, welcher einen ausgehungerten Con-
tour vermeiden wollen, ist in die Schwulst verfallen; der diese vermeiden wol-
len, in das Magere“ (Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die
Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauerkunst, in:
Bibliothek der Kunstliteratur, hg. von Gottfried Boehm und Norbert Miller.
Band 2: Frühklassizismus, hg. von Helmut Pfotenhauer u.a., Frankfurt 1995,
S. 11-50, hier S. 25 f.). Obwohl N. hier und im Folgenden sowie noch in seiner
abschließenden Darstellung des ,Apollinischen4 (155, 27 ff.) auf Winckelmann
zurückgreift und auch immer wieder das in der Altertumswissenschaft nach-
wirkende klassizistische Erbe Winckelmanns erkennen läßt, ist sein eigenes
Griechenbild aufgrund der für ihn fundamentalen Bedeutung des Musikali-
schen statt des Plastischen und aufgrund der an Schopenhauers Philosophie
orientierten Konzeption des Tragisch-Dionysischen antiklassizistisch. Explizit
formuliert er dies in einer Notiz, die zwischen Winter 1869-70 und Frühjahr
1870 entstand (NL 1869/1870, KSA 7, 3[76], 81, 1): „Das ,Hellenische4 seit Win-
ckelmann: stärkste Verflachung“. In der Planungsskizze für eine Vorlesung
heißt es: „Das klassische Alterthum (gegen Wolf, Winckelmann, Goethe)“
(NL 1870/1871, 8[39], KSA 7, 238, 8f.). Vgl. aber das schließlich in eine dialekti-
sche „Erklärung“ übergehende Schichtenmodell in NL 1870/1871, KSA 7, 7[122],
ein spekulatives Denken, das auf Analogien beruht, gepaart mit der Verwen-
dung des schwer zu fassenden Begriffs „symbolisch“. Daß die Künste das
Leben möglich und lebenswert machen, entspricht Schopenhauers Konzept in
der Welt als Wille und Vorstellung, demzufolge der als „Wille“ bezeichnete
unselige, leidensvolle Daseinsgrund sich durch die von ihm selbst hervorge-
brachte Sphäre des schönen Scheins, der künstlerischen „Vorstellungen“, ent-
lastet und so das Leben erträglich macht.
28,1-4 Aber auch jene zarte Linie, die das Traumbild nicht überschreiten darf,
um nicht pathologisch zu wirken, widrigenfalls der Schein als plumpe Wirklich-
keit uns betrügen würde - darf nicht im Bilde des Apollo fehlen] Wie in den
folgenden Zeilen adaptiert N. hier für seinen Zweck Vorstellungen Winckel-
manns, der in seinen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke
in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) eine ganze Partie dem „Kontur“ wid-
met, d. h. der Linie, die eine Gestalt begrenzt. In diesem Zusammenhang
schreibt er: „Der edelste Contour vereiniget oder umschreibet alle Theile der
schönsten Natur und der Idealischen Schönheiten in den Figuren der Grie-
chen“, um dann diese „Linie“ seinem klassizistischen Ideal gemäß gegen baro-
cke und naturalistische Maß-Verletzungen folgendermaßen zu charakterisie-
ren: „Die Linie, welche das Völlige der Natur von dem Überflüßigen derselben
scheidet, ist sehr klein, und die grössten neueren Meister [vorher ist kritisch
von Rubens die Rede] sind über diese nicht allezeit greifliche Grentze auf bey-
den Seiten zu sehr abgewichen. Derjenige, welcher einen ausgehungerten Con-
tour vermeiden wollen, ist in die Schwulst verfallen; der diese vermeiden wol-
len, in das Magere“ (Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die
Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauerkunst, in:
Bibliothek der Kunstliteratur, hg. von Gottfried Boehm und Norbert Miller.
Band 2: Frühklassizismus, hg. von Helmut Pfotenhauer u.a., Frankfurt 1995,
S. 11-50, hier S. 25 f.). Obwohl N. hier und im Folgenden sowie noch in seiner
abschließenden Darstellung des ,Apollinischen4 (155, 27 ff.) auf Winckelmann
zurückgreift und auch immer wieder das in der Altertumswissenschaft nach-
wirkende klassizistische Erbe Winckelmanns erkennen läßt, ist sein eigenes
Griechenbild aufgrund der für ihn fundamentalen Bedeutung des Musikali-
schen statt des Plastischen und aufgrund der an Schopenhauers Philosophie
orientierten Konzeption des Tragisch-Dionysischen antiklassizistisch. Explizit
formuliert er dies in einer Notiz, die zwischen Winter 1869-70 und Frühjahr
1870 entstand (NL 1869/1870, KSA 7, 3[76], 81, 1): „Das ,Hellenische4 seit Win-
ckelmann: stärkste Verflachung“. In der Planungsskizze für eine Vorlesung
heißt es: „Das klassische Alterthum (gegen Wolf, Winckelmann, Goethe)“
(NL 1870/1871, 8[39], KSA 7, 238, 8f.). Vgl. aber das schließlich in eine dialekti-
sche „Erklärung“ übergehende Schichtenmodell in NL 1870/1871, KSA 7, 7[122],