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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0135
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114 Die Geburt der Tragödie

Im Frühling feierten die Athener mehrere große Dionysos-Feste. Das
Anthesterien-Fest (von änthos, Blüte) fand im Februar/März statt. Am ersten
Tag, den Pithoigien (von pithoigia, Öffnen der Fässer), öffnete man die Fässer
mit dem jungen Wein, und der erste Trunk wurde dem Dionysos dargebracht.
Am zweiten Tag, Choen genannt (,Kannenfest4), wurde zu Ehren des Gottes
ein Wett-Trinken veranstaltet sowie die Ankunft des Dionysos am Beginn der
Vegetationsperiode gefeiert, denn er war auch ein Vegetationsgott. Den Höhe-
punkt der zu Ehren des Dionysos in Athen gefeierten Frühlingsfeste bildeten
die im März/April veranstalteten fünftägigen ,Großen Dionysien4; an deren
erstem Tag sangen Chöre Dithyramben, am zweiten führten die Athener fünf
Komödien auf, dann an drei Tagen je eine tragische Tetralogie. Die Darstellung
dieser Feste und ihrer Abfolge gehörte zum Standard-Repertoire der von N.
benutzten Handbücher, so der Griechischen Mythologie von Ludwig Preller
(2 Bde, Leipzig 1854) und der Griechischen Götterlehre von Friedrich Gottlieb
Weicker (3 Bde, Göttingen 1857-1863).
Berühmt waren im Altertum Pindars (etwa 518-446) zahlreiche Dithyram-
ben. Die Alexandriner gaben sie in zwei Büchern heraus. Bei den Athenern
standen sie in höchstem Ansehen, doch sind nur wenige Bruchstücke überlie-
fert, darunter ein Dithyrambos für die Athener zum Dionysosfest, der den
„Frühling44 mitsamt dem frühlingshaften Blütenreichtum feiert und auch die -
wie N. sagt - „lustvollen44 Empfindungen der Menschen im Frühling zum Aus-
druck bringt.
Indem N. auf alle „Völker“ ausgreift, denkt er auch an den Karneval am
Ende des Winters und beim Nahen des Frühlings. Er wird seit jeher auch ety-
mologisch mit dem Dionysoskult in Verbindung gebracht („carrus navalis“ -
in den Prozessionen zu Ehren des Dionysos wurde seine Ankunft auf einem
„Schiffskarren“ dargestellt). Daran erinnert N. explizit in einer Vorstufe der
Tragödienschrift, in dem Basler Vortrag Das griechische Musikdrama: „Die
Seele des Atheners dagegen, der die Tragödie an den großen Dionysien anzu-
schauen kam, hatte in sich noch etwas von jenem Element, aus dem die Tragö-
die geboren ist. Es ist dies der übermächtig hervorbrechende Frühlingstrieb,
ein Stürmen und Rasen in gemischter Empfindung, wie es alle naiven Völker
und die gesammte Natur beim Nahen des Frühlings kennen. Bekanntlich sind
auch unsre Fastnachtsspiele und Maskenscherze ursprünglich solche Früh-
lingsfeste, die nur aus kirchlichen Anlässen etwas zurückdatiert sind“ (KSA 1,
521, 2-10).
Das „Subjective“ (19, 4) meint nicht wie im geläufigen Verständnis die
Sphäre des Nicht-Objektiven oder des Gefühlshaften, sondern das Individuelle,
das vom „principium individuationis“ bestimmt ist. Das Verschwinden des
Individuellen bis hin „zu völliger Selbstvergessenheit“ erinnert nicht nur an
 
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