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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0137
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116 Die Geburt der Tragödie

lakchos genannten) Gott eines Tanzes, der nicht nur die Menschen ekstatisch
dahinreißt, sondern bis zu den Sternen hinaufreicht und den ganzen Kosmos
erfaßt (V. 1146 ff.). In einem berühmten Chorlied des Sophokleischen König
Ödipus wird der kultische Charakter dieses Chortanzes greifbar: Als „das Göttli-
che“ selbst in Zweifel gerät und der Chor klagt „Hin ist das Göttliche“ (V. 910),
fragt er: „Warum soll ich denn tanzen?“ (t( öei pic x°P£üelv, V. 896). Vor diesem
Hintergrund ist der ,dionysische4 Kult des Tanzes im Zarathustra zu verstehen.
Markant zeigt sich dabei die moderne Umkodierung. Es handelt sich nicht
mehr um einen kultischen Tanz, sondern um den stärksten Ausdruck einer
mythologisch besetzten Lebensbejahung (vgl. auch das Zarathustra-Zitat am
Schluß des Versuchs einer Selbstkritik, 22, 14-28). Hier, in GT, kommt eine Ten-
denz zur Psychologisierung ,dionysischer4 Tänze zum Ausdruck.
29, 9 f. mit ihrer Vorgeschichte in Kleinasien, bis hin zu Babylon und den orgias-
tischen Sakäen.] Vgl. die Erläuterungen zu GT 2 (NK 31, 30-32, 33).
29,11-14 Es giebt Menschen, die, aus Mangel an Erfahrung oder aus Stumpf-
sinn, sich von solchen Erscheinungen wie von „Volkskrankheiten“, spöttisch oder
bedauernd im Gefühl der eigenen Gesundheit abwenden] Kritische Distanzie-
rung von der Tendenz, die der Untertitel von Heckers Buch erkennen läßt (vgl.
NK 29, 7 f.), N.s Quelle für die „Sanct-Johann- und Sanct-Veittänzer“.
29,14-17 die Armen [...] vorüberbraust.] Textvariante in Ed1: „man giebt damit
eben zu verstehen, dass man ,gesund4 ist, und dass die am Waldesrande sitzen-
den Musen, mit Dionysus in ihrer Mitte, erschreckt in das Gebüsch, ja in die
Wellen des Meeres flüchten, wenn so ein gesunder ,Meister Zettel4 plötzlich vor
ihnen erscheint“. In diesen Zeilen des Erstdrucks spielt N. auf das Bild ,Bac-
chus unter den Musen4 von Bonaventura Genelli (1798-1868) an, das im Salon
von Wagners Landhaus in Tribschen hing. Am 16.7.1872 schrieb N. an seinen
Freund Erwin Rohde: „Du weißt, daß ich bei den ,Musen mit Dionysus in der
Mitte4 an das bei Wagner in Tribschen hängende Aquarell Genelli’s gedacht
habe“ (KSB 4, Nr. 239, S. 25, Z. 93-95). Wilamowitz, der dieses Bild nicht
kannte, hatte gespottet: „Hr. N. kennt die Musen in der Begleitung des Diony-
sos! sie sitzen nämlich mit ihm ,am Waldrand4, wozu mögen sie da wol sitzen?“
(S. 19, bei Gründer, 1969, S. 42, Anm. 18). N. wollte Rohde mit diesem Hinweis
in seiner gegen Wilamowitz gerichteten Verteidigung der Tragödienschrift
unterstützen.
Die Wendung „ja in die Wellen des Meeres“ spielt auf ein zweites Dionysos-
Bild von Genelli an, den ,Kampf des Lykurgos mit den bacchischen Scharen4.
Im frühesten Zeugnis für den Kampf des sagenhaften thrakischen Königs
Lykurgos gegen Dionysos, in Homers Ilias 6, V. 130-140, heißt es, daß Dionysos
 
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