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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0183
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162 Die Geburt der Tragödie

47, 23-30 dass wir [...] in der Bedeutung von Kunstwerken unsre höchste Würde
haben - denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die
Welt ewig gerechtfertigt: - während freilich unser Bewusstsein über diese
unsre Bedeutung kaum ein andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger
von der auf ihr dargestellten Schlacht haben.] Im späteren Versuch einer Selbst-
kritik betont N. (17, 11-16), daß es ihm mit der Feststellung, die Welt sei nur als
ästhetisches Phänomen gerechtfertigt, vor allem darum ging, keine theologi-
sche (als Schöpfung Gottes) und vor allem keine moralische Rechtfertigung
der Welt zu finden. Der Begriff der Rechtfertigung hat schon in alter kirchlicher
Tradition und dann besonders durch Luthers Lehre von der Rechtfertigung im
Glauben einen religiösen Sinn erhalten. Indem N. ihn hier von der religiösen
auf die ästhetische Sphäre überträgt, markiert er mit polemischem Unterton
einen Ablösungsvorgang, wie er bereits um 1800 vielfach konstatiert worden
ist: Die Kunst tritt an die Stelle der Religion. Dies geht noch deutlicher aus
dem ungefähr gleichzeitig - im Jahr 1871 - notierten Fragment 9 [94] (NL 1871,
KSA 7, 309, 10-16) hervor: „Die Kun st periode ist eine Fortsetzung der
mythen- und religionbildenden Periode. / Es ist ein Quell, aus dem Kunst
und Religion fließt. / Jetzt ist es gerathen, die Reste des religiösen Lebens
zu beseitigen, weil sie matt und unfruchtbar sind und die Hingebung an
ein eigentliches Ziel abschwächen. Tod dem Schwachen!“ Hier tritt die
geschichtliche Reflexion hervor (in der Rede von den „Perioden“), die in GT
nicht eigens formuliert wird, aber die ganze Schrift grundiert. Das Notat läßt
auch erkennen, wie sich N. im Kontext des 19. Jahrhunderts positioniert. Hegel
hatte in seiner Phänomenologie des Geistes eine geschichtliche Abfolge ver-
schiedener Perioden bis hin zur Parusie des absoluten Geistes statuiert. Kunst
und Religion nehmen darin eine ganz andere Stelle ein, insofern Hegel sie
lediglich als historische Vorstufen der (eigenen) Philosophie auffaßt. Mit dem
Ausdruck „Kunstperiode“ greift N. außerdem einen zentralen Terminus Heines
auf, der schon früh zu den für ihn wichtigen Schriftstellern gehörte. Immer
wieder hatte Heine das „Ende der Kunstperiode“ verkündet, mit welcher er
die Goethezeit meinte, deren ästhetische Grundorientierung er als überholt
darstellt. N. wertet gerade entgegengesetzt, indem er von der ästhetischen
Rechtfertigung des Daseins und der Welt spricht. Sein Notat ist auch insofern
aufschlußreich, als es Kunst und Religion aus einem „Quell“ fließen sieht, also
der Kunst prinzipiell die gleiche, jedoch zeitgemäßere ,metaphysische4 Qualität
zuerkennt. Da er, wahrscheinlich unter dem Einfluß seines theologischen
Freundes Overbeck in Basel, das Christentum als abgewirtschaftet ansieht, plä-
diert er dafür, „die Reste des religiösen Lebens zu beseitigen“ und ruft im
Hinblick auf das Christentum aus: „Tod dem Schwachen!“ Infolgedessen bleibt
nur die „Kunst“ als ,metaphysische4 Sinnstiftung, als ,Kunstreligion4 übrig; sie
 
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