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Stellenkommentar GT 5, KSA 1, S. 47 163

rückt an die Stelle der Religion. Dementsprechend bezeichnet N. im Vorwort an
Richard Wagner die Kunst als die „eigentlich metaphysische Thätigkeit dieses
Lebens“ (24, 15).
Diese Position amalgamiert N. in der vorliegenden Passage mit dem Kon-
zept Schopenhauers, demzufolge der Künstler und überhaupt der Mensch nicht
autonom handelt und gestaltet, vielmehr selbst schon ein Produkt des „Wil-
lens“ ist, wovon er allerdings kein „Bewusstsein“ hat. Trotz dieses Grundver-
hältnisses hält N. an der „ästhetischen Rechtfertigung“ des Daseins und der
Welt fest und versucht im Reservat der Kunst der Weltverneinung Schopen-
hauers zu entkommen.
Wie sehr der Gedanke, daß die Welt nur als ästhetisches Phänomen
gerechtfertigt ist, einer säkularisierten Theodizee gleichkommt, geht aus ande-
ren Verwendungen der Theodizee- und damit Rechtfertigungs-Vorstellungen
hervor. In GT 3 (36, 20-23) heißt es von der „Vollendung des Daseins“, welche
„die olympische Welt entstehn“ ließ: „So rechtfertigen die Götter das Men-
schenleben, indem sie es selbst leben - die allein genügende Theodicee!“ In
der 3. Unzeitgemäßen Betrachtung: Schopenhauer als Erzieher geht diese Recht-
fertigung von den „Göttern“ auf den großen, schöpferischen Menschen über,
auf den „Genius“ (KSA 1, 363, 13-21): „der Genius selbst wird jetzt aufgerufen,
um zu hören, ob dieser, die höchste Frucht des Lebens, vielleicht das Leben
überhaupt rechtfertigen könne; der herrliche schöpferische Mensch soll auf die
Frage antworten: ,bejahst denn du im tiefsten Herzen dieses Dasein? Genügt
es dir? Willst du sein Fürsprecher, sein Erlöser sein? Denn nur ein einziges
wahrhaftiges Ja! aus deinem Munde - und das so schwer verklagte Leben soll
frei sein4. - Was wird er antworten? - Die Antwort des Empedokles.“
Schopenhauer hatte in seiner Auseinandersetzung mit Leibnizens optimis-
tischer Theodizee in der Welt als Wille und Vorstellung (Viertes Buch, Kapi-
tel 46: Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens) die Vorstellung einer
Rechtfertigung des Daseins im Gegensatz zu N. radikal verworfen. Er schreibt:
„wenn Einer wagt, die Frage aufzuwerfen, warum nicht lieber gar nichts sei,
als diese Welt; so läßt die Welt sich nicht aus sich selbst rechtfertigen [!], kein
Grund, keine Endursache ihres Daseyns in ihr selbst finden, nicht nachweisen,
daß sie ihrer selbst wegen, d. h. zu ihrem eigenen Vortheil dasei. - Dies ist,
meiner Lehre zufolge, freilich daraus erklärlich, daß das Princip ihres Daseyns
ausdrücklich ein grundloses ist, nämlich blinder Wille zum Leben“ (Frauen-
städt, Bd. 3, S. 664 f.).
In der bald nach der Tragödienschrift entstandenen Abhandlung Die Philo-
sophie im tragischen Zeitalter der Griechen spricht N. zwar nicht von der Welt
als einem „ästhetischen“ Phänomen, wohl aber analog von einem „künstleri-
schen Phänomen“, das er unter dem Begriff des „Werdens“ bereits von einem
 
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