Metadaten

Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0213
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
192 Die Geburt der Tragödie

der Musik, aus dem das einigende Band des Ausdruckes erwächst“. Diese
Bedeutung des Orchesters als „Mutterschooß“ der Musik vergleicht Wagner mit
derjenigen des Chors in der griechischen Tragödie: „Der Chor der griechi-
schen Tragödie hat seine gefühlsnothwendige Bedeutung für das Drama
im modernen Orchester allein zurückgelassen“.
62, 22-27 Während wir, mit der Gewöhnung an die Stellung eines Chors auf
der modernen Bühne, zumal eines Opernchors, gar nicht begreifen konnten, wie
jener tragische Chor der Griechen älter, ursprünglicher, ja wichtiger sein sollte,
als die eigentliche „Action“, - wie dies doch so deutlich überliefert war] Was
N. hier als „überliefert“ ausgibt, ist seine eigene Interpretation. Nirgends ist
„überliefert“, daß der Chor „wichtiger“ sei als die Handlung, die „Action“.
Bezeichnenderweise weist N. nicht auf Aristoteles hin, der in seiner Poetik
gerade die Handlung als den konstituierenden und zentralen Wesenszug der
Tragödie in ihrer historisch greifbaren Gestalt bestimmt. Noch in einer Anmer-
kung zu der Schrift Der Fall Wagner (1888) geht N. auf die hier aufgeworfene
Problematik ein (KSA 6, 32, 23-33):
*) Anmerkung. Es ist ein wahres Unglück für die Aesthetik gewesen, dass man das
Wort Drama immer mit .Handlung“ übersetzt hat. Nicht Wagner allein irrt hierin; alle Welt
ist noch im Irrthum; die Philologen sogar, die es besser wissen sollten. Das antike Drama
hatte grosse Pathosscenen im Auge - es schloss gerade die Handlung aus (verlegte
sie vor den Anfang oder hinter die Scene). Das Wort Drama ist dorischer Herkunft:
und nach dorischem Sprachgebrauch bedeutet es .Ereigniss“, .Geschichte“, beide Worte in
hieratischem Sinne. Das älteste Drama stellte die Ortslegende dar, die .heilige Geschichte“,
auf der die Gründung des Cultus ruhte (- also kein Thun, sondern ein Geschehen: 6püv
heisst im Dorischen gar nicht ,thun“). Vgl. NK KSA 6, 32, 23-33.
62, 32-63, 2 sind wir jetzt zu der Einsicht gekommen, dass die Scene sammt
der Action im Grunde und ursprünglich nur als Vision gedacht wurde, dass die
einzige „Realität“ eben der Chor ist, der die Vision aus sich erzeugt und von ihr
mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und des Wortes redet.] Hier
gipfelt N.s Versuch, den Chor, d. h. letztlich die Musik als das ausschließlich
Relevante, als die „einzige Realität“ darzustellen. Denn wenn die „Scene“ (die
Bühne) und die „Action“ nur als „Vision“ des Chores zu verstehen sind, werden
sie nicht nur ihrer Eigenwertigkeit und ihrer spezifischen „Realität“ beraubt,
sondern auch in eine irreal-visionäre Sphäre entrückt.
63, 3-6 Dieser Chor schaut in seiner Vision seinen Herrn und Meister Dionysus
und ist darum ewig der dienende Chor: er sieht, wie dieser, der Gott, leidet
und sich verherrlicht, und handelt deshalb selbst nicht.] Zunächst trägt N.
hier der historisch greifbaren Tatsache Rechnung, daß der tragische Chor (mit
einigen Ausnahmen bei Aischylos) nicht handelt, sondern die Handlung mit
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften