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Stellenkommentar GT 8, KSA 1, S. 59-62 191

wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen wäre. Die-
ser Prozess steht an dem Anfang der Entwickelung des Dramas.] Zur Vorstellung
der Verwandlung hier und im Folgenden vgl. den einleitenden Überblick zu
GT 8, S. 185, sowie NK 59, 12-15. Der Begriff „Prozess“ ist hier aufgefaßt im
Sinne des Fortschreitens in ein neues Stadium: in dasjenige der Handlung, des
eigentlich Dramatischen.
61, 21-24 Die Jungfrauen, die, mit Lorbeerzweigen in der Hand, feierlich zum
Tempel des Apollo ziehn und dabei ein Prozessionslied singen, bleiben, wer sie
sind, und behalten ihren bürgerlichen Namen] In seiner Vorlesung über die grie-
chischen Lyriker behandelt N. den Chorlyriker Alkman und nennt ein 1863 aus
einem ägyptischen Papyrus veröffentlichtes ,Partheneion‘ („Lied der Jung-
frauen“) mitsamt der zu diesem aktuellen Fund publizierten wissenschaftli-
chen Literatur (KGW II 2, 127). Dieses Partheneion enthält sogar einige Namen
der am Gesang beteiligten Jungfrauen. Daran dürfte N. gedacht haben, als er
von den „bürgerlichen Namen“ sprach, um den Gegensatz zum Dithyrambos
und damit die Opposition Apollinisch - Dionysisch zu betonen.
62, 5f. Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tragödie als den
dionysischen Chor zu verstehen] Hier heißt es in der Vorstufe: „Nur vom Stand-
punkt eines dionysisch sich verzaubert wähnenden Chors erklärt sich die
Scene, und deren Aktion. Dieser Chor kann in einem wahren Sinne der ideali-
sche Zuschauer genannt werden, insofern er der einzige Schauer ist, der
Schauer der Visionswelt der Scene: mit welcher Erklärung wir uns freilich von
der Schlegelschen Auslegung jenes Wortes vollständig entfernt haben. Er ist
der eigentliche Erzeuger jener Welt. Vielleicht also wäre es ausreichend den
Chor zu definiren: als die dionysische Schaar von Schauspielern, die in ein
fremdes Sein und in einen fremden Charakter eingegangen sind: und jetzt aus
diesem fremden Sein heraus ein lebendiges Götterbild vor sich erzeugen: so
daß der Urprozeß des Schauspielers ist-Wir erleben die Entstehung der
Tragödie noch einmal aus der Musik“ (KSA 14, 49).
62, 7-10 Jene Chorpartien, mit denen die Tragödie durchflochten ist, sind also
gewissermaassen der Mutterschooss des ganzen sogenannten Dialogs d. h. der
gesammten Bühnenwelt, des eigentlichen Dramas.] Mit dieser zentralen Aus-
sage, die den Titel Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik erklärt,
übernimmt N. die Grundgedanken und sogar einzelne Formulierungen aus
Wagners Schrift Oper und Drama auf (3. Teil: Dichtkunst und Tonkunst im
Drama der Zukunft, Abschnitt VI, GSD IV, 190 f.). Darin heißt es, mittels der
Leitmotivik nehme das Orchester „an dem Gesammtausdrucke aller Mittheilun-
gen des Darstellers [...] einen ununterbrochenen, nach jeder Seite hin tragen-
den und verdeutlichenden Antheil: es ist der bewegungsvolle Mutterschooß
 
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