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190 Die Geburt der Tragödie

59, 34-60,1 den Chor, auf seiner primitiven Stufe in der Urtragödie] Das Wort
„primitiv“ verwendet N. hier nicht in der abwertenden Bedeutung, sondern im
positiven Sinn von „ursprünglich“.
60, 2 f. den Prozess des Schauspielers] Im Wortsinn: das Hervortreten (proce-
dere) des Schauspielers.
60, 22-27 Durch eine eigenthümliche Schwäche der modernen Begabung sind
wir geneigt, uns das aesthetische Urphänomen zu complicirt und abstract vorzu-
stellen. Die Metapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur,
sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes,
vorschwebt.] In einem Notat aus der Entstehungszeit der Tragödienschrift heißt
es: „Der Begriff, im ersten Moment der Entstehung, ein künstlerisches Phä-
nomen: das Symbolisiren einer ganzen Fülle von Erscheinungen, ursprünglich
ein Bild, eine Hieroglyphe. Also ein Bild an Stelle eines Dings [...] So beginnt
der Mensch mit diesen Bilderprojektionen und Symbolen“ (NL 1870/
1871/1872, KSA 7, 8[41], 238, 24-239, 2). Im rhetorischen System ist die Metapher
nicht „eine rhetorische Figur“, sondern eine Trope. Aristoteles wertet in seiner
Poetik die Metapher als ein zentrales Element speziell der dichterischen Spra-
che (1459a).
61, 7 Die dionysische Erregung] Die Vorstellung einer spezifischen Erregung
nimmt N. immer wieder auf; alsbald ist die Rede von „der gesammten diony-
sisch erregten Masse“ (62, 20 f.) und vom „dionysisch erregten Zuschauer“
(64, 3f.). „Erregung“ und „erregen“ sind - oft sexuell unterlegte - Schlüssel-
wörter Wagners. Immer wieder betont er, es komme auf möglichst starke
Gefühlserregung durch die Musik und die anderen Darstellungsmittel des
,Gesamtkunstwerks4 an. Gerne häuft er diese Wörter, um Nachdruck zu erzeu-
gen - so folgen auf einer einzigen Seite seiner Schrift Oper und Drama (GSD
IV, 175) diese Wendungen aufeinander: „Bei einer solchen Mittheilung ist [...]
das sinnliche Empfängnisorgan aber auch nicht erregt, sondern es dient nur
als theilnahmsloser Vermittler. Die Mittheilung eines Gegenstandes aber, den
die Wortsprache nicht zu völliger Überzeugung an das nothwendig auch zu
erregende Gefühl kundgeben kann [...] Wir sehen also, daß wo das Gehör zu
größerer sinnlicher Theilnahme erregt werden soll [...] Das Auge war durch
die Gebärde somit auf eine Weise erregt [...] Der in der Erregung zur Melodie
gewordene Wortvers [...] gerade in ihr [der Melodie] als erregtestem Sprach-
ausdrucke“. An anderer Stelle der gleichen Schrift (S. 112) beschwört Wagner
die „höchste, gebärungskräftige Gefühlserregung“.
61,10-14 Dieser Prozess des Tragödienchors ist das dramatische Urphäno-
men: sich selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man
 
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