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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0234
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Stellenkommentar GT 10, KSA 1, S. 72 213

sen“. Auch bei Christian August Lobeck: Aglaophamus, Königsberg 1829,
S. 889 f., konnte er diese Verse finden.
Allerdings weicht N. gravierend von der Überlieferung ab, indem er vom
Lächeln und von den Tränen des Dionysos spricht, den die orphischen Verse
nicht nennen. Vielleicht sah er sich aufgrund des engen Zusammenhangs der
Dionysos-Mysterien mit der Orphik dazu berechtigt, vor allem aber war ihm
daran gelegen, den Dionysos, der am Anfang der Tragödie stand, mit dem
Mysteriengott Dionysos zusammenzuführen - alsbald spricht er sogar von der
„Mysterienlehre der Tragödie“ (73, 2f.) -, um ihm damit eine weltan-
schaulich relevante Schlüsselfunktion zuzuweisen.
72, 22-25 In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur
eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmüthigen Herr-
schers.] Aus zwei Notizen N.s geht die Quelle für diese Aussage hervor: Plut-
archs Lebensbeschreibungen des Themistokles und des M. Antonius. Bereits
Creuzer (Symbolik III, 21821, S. 334) und Weicker (Griechische Götterlehre, Bd. 1,
S. 443 f.) hatten sie herangezogen, um die wilde und grausame Seite des meist
als heiter vorgestellten Dionysos nachzuweisen.
N.s Notizen: 1. NL 1870/1871, KSA 7, 7[61], 152, 12 f.: „Aiövvooq tüppoTfiq
und äypitüvioq = Zaypevq [Dionysos, der Rohfresser und Wilde = Zagreus]. Ihm
opfert Themistokles vor der Schlacht bei Salamis drei Jünglinge“. 2. NL 1870/
1871, KSA 7, 7[123], 177, 26-34: „In jenem Zustand hat Dionysos die Doppelnatur
eines grausamen, verwilderten Dämons und eines milden Herrschers (als
äy(picüvio0 und wp/poTfiq/ und peiA/ixioq/)- Diese Natur offenbart sich in so
schrecklichen Anwandlungen, wie in jener Forderung des Wahrsagers
Euphrantides vor der Schlacht bei Marathon [versehentlich statt: Salamis],
man müsse dem Dionysos a(ypicüvioq/ [gemeint ist: copporfiq] die drei Schwes-
ternsöhne des Xerxes, drei schöne und glänzend geschmückte Jünglinge zum
Opfer bringen: dies allein sei die Bürgschaft des Sieges“.
72, 25-34 Die Hoffnung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt des Dio-
nysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungsvoll zu begreifen
haben: diesem kommenden dritten Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang
der Epopten. Und nur in dieser Hoffnung giebt es einen Strahl von Freude auf
dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen zertrümmerten Welt: wie es der
Mythus durch die in ewige Trauer versenkte Demeter verbildlicht, welche zum
ersten Male wieder sich freut, als man ihr sagt, sie könne den Dionysus noch
einmal gebären.] Diese Ausführungen sind konzeptionell schon auf den
Beginn des 3. Teils von GT hin formiert, der mit Kap. 16 beginnt: auf die musi-
kalische „Wiedergeburt der Tragödie“ (103, 13f.) und des „Mythus“ im
Werk Richard Wagners. Als mythologische Präfiguration erscheint die „Wieder-
 
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