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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0245
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224 Die Geburt der Tragödie

an einer sicheren historischen Exemplifikation zu beruhigen, hier näher auf
den Tod der griechischen Tragödie einzugehen, in der Annahme, daß,
wenn wirklich die Tragödie aus jener Vereinigung des Dionysischen und des
Apollinischen geboren ist, auch der Tod der Tragödie aus der Lösung dieser
Urkräfte zu erklären sein muß: wobei jetzt die Frage entsteht, welches die
Macht war, die diese fest ineinander verschlungenen Urkräfte zu lösen ver-
mochte“ (KSA 14, 51) In der Vorstufe steht die Antwort auf diese „Frage“: „Ich
habe bereits gesagt, daß diese Macht der Sokratismus war“ (KSA 14, 52).
75, 25-32 wie einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an einem ein-
samen Eiland den erschütternden Schrei hörten „der grosse Pan ist todt“: so
klang es jetzt wie ein schmerzlicher Klageton durch die hellenische Welt: „die
Tragödie ist todt! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren gegangen! Fort, fort mit
euch verkümmerten, abgemagerten Epigonen! Fort in den Hades, damit ihr euch
dort an den Brosamen der vormaligen Meister einmal satt essen könnt!“] Plut-
arch berichtet in seiner Schrift Über den Niedergang der Orakel (Moralia 419b-e:
De defectu oraculorum 17), Schiffsreisende hätten vor der griechischen Küste
eine geheimnisvolle Stimme vernommen, die den Steuermann beauftragte, an
einer bestimmten Stelle auszurufen, „daß der große Pan tot ist“ (öti ndv ö
pcyaq te0vt}kev). Dieser habe den Auftrag ausgeführt, und die Nachricht sei
mit vielstimmigen lauten Klagerufen aufgenommen worden. Mit dem Tod von
Dämonen wie Pan versucht einer der Gesprächsteilnehmer in Plutarchs Schrift
den Verfall der Orakel zu erklären. N. hatte eine deutsche Plutarch-Überset-
zung in seiner persönlichen Bibliothek. Bei der hier zitierten Schrift handelt
es sich um den Traktat Ueber den Verfall der Orakel, in: Plutarchs Werke. Neun
und zwanzigstes Bändchen. Moralische Schriften, übersetzt von Joh. Christian
Bähr. Zehntes Bändchen, Stuttgart 1835, S. 1306. Im Kontext von GT ist Pan von
Bedeutung, weil er, der ursprünglich ein arkadischer Hirtengott war, später auf
vielen Darstellungen große Ähnlichkeit mit Satyrn und Silenen aufweist und
mit ihnen zum Gefolge des Dionysos gehört. Oft erscheint er mit den Füßen
und dem Kopf eines Ziegenbockes, später mit einem Menschenkopf mit Bocks-
bart und -hörnern. Pans Eigenschaft als Natur-Dämon und seine Verbindung
mit Dionysos, der ja gerade für N. als Gott der Tragödie von besonderer Bedeu-
tung ist, erklärt die Variation des überlieferten Ausrufs, die nun lautet: „die
Tragödie ist todt!“. Zugleich nimmt N. damit einen Passus aus den Fröschen
des Aristophanes auf, der in seiner fiktiven Konfrontation von Aischylos und
Euripides den älteren Tragiker sagen läßt (V. 868 f.): „Nicht tot mit mir ist
meine Poesie; / Die seine ist’s mit ihm, er nahm sie mit“.
Den anschließenden Ausruf „Fort, fort mit euch verkümmerten, abgema-
gerten Epigonen!“ formuliert N. schon in einer seiner Vorarbeiten zu GT, die
unter dem Titel Socrates und die Tragoedie steht. Darin ist von „verkümmerten
 
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