Stellenkommentar GT 11, KSA 1, S. 75 2 23
scher Abwertung des letzten griechischen Tragikers. Insbesondere rügt Schle-
gel an den Werken seiner Zeit wie an denen des Euripides, daß sie „auf eine
wahre sittliche Freigeisterei“ hinauslaufen (S. 101). Wie später dann auch N.
diagnostiziert A. W. Schlegel bereits den kulturellen Verfall, den Euripides in
der Geschichte der Tragödie erkennen lasse: „Im Euripides finden wir das
Wesen der alten Tragödie nicht mehr rein und unvermischt; ihre charakteristi-
schen Züge sind schon zum Teil verlöscht. Wir [!] haben diese besonders in
die darin herrschende Idee des Schicksals, in die idealische Darstellung und
in die Bedeutung des Chores gesetzt“ (S. 102).
75,13-15 Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen als sämmtli-
che ältere schwesterliche Kunstgattungen: sie starb durch Selbstmord] Diese
steile These formuliert N. im Hinblick auf seine Kritik an Euripides, dem letzten
der großen drei griechischen Tragiker, dem er den Untergang der Tragödie
insgesamt anlastet. „Diesen Todeskampf der Tragödie kämpfte Euripides“,
heißt es alsbald (76, 5 f.). N. geht nicht auf die historischen, insbesondere die
politischen Bedingungen für die Entfaltung und das Ende der großen Tragö-
dien-Dichtung in Athen ein: auf den in der letzten Lebenszeit des Euripides
stattfindenden Niedergang, nachdem Athen durch den desaströsen Ausgang
des Peloponnesischen Krieges und innere Wirren nicht nur seine Machtstel-
lung, sondern auch seine Poliskultur weitgehend eingebüßt hatte. Gerade aber
die Tragödien des Euripides lebten nach dessen Tod noch lange auch außer-
halb Athens intensiv fort. Um seines Demonstrationszieles willen weist N. auch
nicht darauf hin, daß Sophokles, der ein sehr hohes Alter erreichte, Euripides
sogar noch kurze Zeit überlebte und selbst in diesem hohen Alter Stücke
schrieb, darunter Ödipus auf Kolonos, den N. zuvor rühmt. Daß die griechische
Tragödie des 5. Jahrhunderts v. Chr., als deren Hauptrepräsentanten Aischylos,
Sophokles und Euripides schon im 4. Jahrhundert v. Chr. kanonisiert wurden,
nicht „Selbstmord“ beging, sondern daß sich die Lebensbedingungen der Polis
änderten, sah - anders als N. - Wagner schon in seinen Frühschriften. Er
bezeichnet die Tragödienkultur als Ergebnis „höchster gemeinschaftlicher Bil-
dung“ (Die Kunst und die Revolution, GSD III, 24), und er merkt an: „Genau [in
der alten Wortbedeutung: „ganz nahe“] mit der Auflösung des athenischen
Staates hängt der Verfall der Tragödie zusammen“ (GSD, 12). Allerdings nennt
Wagner nur Aischylos und Sophokles, nicht dagegen Euripides. Zu der von
Aristophanes in seiner Komödie Die Frösche inaugurierten und bis ins 19. Jahr-
hundert von manchen Autoren fortgeschriebenen Abwertung des Euripides,
die ihren stärksten Ausdruck bei N. findet, vgl. NK 76, 34-77, 3.
Im Druckmanuskript, d. h. in der handschriftlichen Vorlage zum Erstdruck,
hatte N. noch vorsichtig und hypothetisch-spekulativ formuliert: „Man gestatte
uns, - um nach diesen allgemeinen grundlegenden Betrachtungen das Auge
scher Abwertung des letzten griechischen Tragikers. Insbesondere rügt Schle-
gel an den Werken seiner Zeit wie an denen des Euripides, daß sie „auf eine
wahre sittliche Freigeisterei“ hinauslaufen (S. 101). Wie später dann auch N.
diagnostiziert A. W. Schlegel bereits den kulturellen Verfall, den Euripides in
der Geschichte der Tragödie erkennen lasse: „Im Euripides finden wir das
Wesen der alten Tragödie nicht mehr rein und unvermischt; ihre charakteristi-
schen Züge sind schon zum Teil verlöscht. Wir [!] haben diese besonders in
die darin herrschende Idee des Schicksals, in die idealische Darstellung und
in die Bedeutung des Chores gesetzt“ (S. 102).
75,13-15 Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen als sämmtli-
che ältere schwesterliche Kunstgattungen: sie starb durch Selbstmord] Diese
steile These formuliert N. im Hinblick auf seine Kritik an Euripides, dem letzten
der großen drei griechischen Tragiker, dem er den Untergang der Tragödie
insgesamt anlastet. „Diesen Todeskampf der Tragödie kämpfte Euripides“,
heißt es alsbald (76, 5 f.). N. geht nicht auf die historischen, insbesondere die
politischen Bedingungen für die Entfaltung und das Ende der großen Tragö-
dien-Dichtung in Athen ein: auf den in der letzten Lebenszeit des Euripides
stattfindenden Niedergang, nachdem Athen durch den desaströsen Ausgang
des Peloponnesischen Krieges und innere Wirren nicht nur seine Machtstel-
lung, sondern auch seine Poliskultur weitgehend eingebüßt hatte. Gerade aber
die Tragödien des Euripides lebten nach dessen Tod noch lange auch außer-
halb Athens intensiv fort. Um seines Demonstrationszieles willen weist N. auch
nicht darauf hin, daß Sophokles, der ein sehr hohes Alter erreichte, Euripides
sogar noch kurze Zeit überlebte und selbst in diesem hohen Alter Stücke
schrieb, darunter Ödipus auf Kolonos, den N. zuvor rühmt. Daß die griechische
Tragödie des 5. Jahrhunderts v. Chr., als deren Hauptrepräsentanten Aischylos,
Sophokles und Euripides schon im 4. Jahrhundert v. Chr. kanonisiert wurden,
nicht „Selbstmord“ beging, sondern daß sich die Lebensbedingungen der Polis
änderten, sah - anders als N. - Wagner schon in seinen Frühschriften. Er
bezeichnet die Tragödienkultur als Ergebnis „höchster gemeinschaftlicher Bil-
dung“ (Die Kunst und die Revolution, GSD III, 24), und er merkt an: „Genau [in
der alten Wortbedeutung: „ganz nahe“] mit der Auflösung des athenischen
Staates hängt der Verfall der Tragödie zusammen“ (GSD, 12). Allerdings nennt
Wagner nur Aischylos und Sophokles, nicht dagegen Euripides. Zu der von
Aristophanes in seiner Komödie Die Frösche inaugurierten und bis ins 19. Jahr-
hundert von manchen Autoren fortgeschriebenen Abwertung des Euripides,
die ihren stärksten Ausdruck bei N. findet, vgl. NK 76, 34-77, 3.
Im Druckmanuskript, d. h. in der handschriftlichen Vorlage zum Erstdruck,
hatte N. noch vorsichtig und hypothetisch-spekulativ formuliert: „Man gestatte
uns, - um nach diesen allgemeinen grundlegenden Betrachtungen das Auge