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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0255
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234 Die Geburt der Tragödie

Doch weit glänzender [als Aischylos] haben die Tragödiendichtung Sophokles und Euripi-
des zum Ruhm gebracht, wobei die Frage, da sie in ihrer Sprache so ganz verschiedene
Wege gehen, unter den Kritikern immer wieder gestellt wird, wer von ihnen der bessere
Dichter sei [...]. Die Tatsache freilich nur muß gewiß jeder anerkennen, daß für Redner,
die vor Gericht aufzutreten sich rüsten, Euripides weit nützlicher sein wird. [68] Denn
dieser kommt in seiner Sprache dem Stil des Redners näher (magis accedit oratorio
generi) - was gerade diejenigen tadeln, denen der feierliche Ernst, das Hochtrabende
und der volle Ton des Sophokles erhabener zu sein scheint -, ferner ist er in seinen
Sentenzen gehaltvoll und selbst dem, was von den Philosophen gelehrt wird, fast eben-
bürtig (et illis, quae a sapientibus tradita sunt, paene ipsis par), und auch in seinen
Reden und Antworten hält er mit jedwedem, der sich je auf dem Forum einen Namen
gemacht hat (qui fuerint in foro diserti), den Vergleich aus; bei den Gefühlswirkungen
gar ist er zwar in allem bewundernswert, zumal aber in denen, die dem Mitleid dienen
(qui in miseratione constant), wohl der Hervorragendste (Übers. Helmut Rahn, 1975).
A. W. Schlegel hatte sich mit Quintilians von rhetorischen Interessen geleiteter
Vorliebe für Euripides folgendermaßen auseinandergesetzt: „So suchte der
Dichter seine Poesie den Athenern durch die Ähnlichkeit mit ihrem täglichen
Lieblingsgeschäft, Prozesseführen, Entscheiden oder wenigstens Anhören,
unterhaltend zu machen. Deswegen empfiehlt ihn Quintilian vorzüglich dem
jungen Redner, der aus seinem Studium mehr als aus den ältern Tragikern
lernen könne, welches allerdings seine Richtigkeit hat. Allein man sieht, daß
eine solche Empfehlung nicht sonderlich empfiehlt: denn Beredsamkeit kann
zwar ihre Stelle im Drama finden, wenn sie der Fassung und dem Zweck der
redenden Person gemäß ist; tritt aber Rhetorik an die Stelle des unmittelbaren
Ausdrucks der Gemütsbewegungen, so ist dies eben nicht poetisch“ (S. 108 f.).
77, 26-28 An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Masse durfte sich jetzt
die neuere Komödie wenden, für die Euripides gewissermaassen der Chorlehrer
geworden ist] Im sachlichen Gehalt, wenn auch nicht in der negativen Wertung
entspricht dies ebenfalls schon der antiken Einschätzung. In unmittelbarem
Anschluß an die im vorigen Kommentar zitierte Partie schreibt Quintilian:
„Bewundert hat ihn vor allem und auch, wie oft bezeugt wird, - obwohl für
eine andere dichterische Aufgabe [nämlich für Komödien] - zum Vorbild
genommen Menander (hunc et admiratus maxime est [...] Menander)“. Indem
N. von der „aufgeklärten Masse“ spricht, gibt er zu erkennen, daß seine vor
allem der karikierenden Polemik des Aristophanes folgende Anschwärzung des
Euripides und dessen aufgeklärter Haltung eigentlich auf die Gegenwart des
19. Jahrhunderts gemünzt ist: Sie richtet sich gegen die im 18. Jahrhundert
beginnende und in den progressiven Strömungen des 19. Jahrhunderts fort-
schreitende Aufklärung - gegen liberales, demokratisches Denken und die
soziale Bewegung seit 1848 sowie gegen deren Medium, die liberale Presse. In
seinen Basler Frühschriften polemisiert N. entsprechend gegen das „Zeitungs-
 
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