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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0259
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238 Die Geburt der Tragödie

Nothwendigkeit ist, wenn es wirklich zu einer rechten Werdelust der Kunst
kommen soll. Wir Neueren haben vor den Griechen zwei pfauenartig sich sprei-
zende Begriffe voraus, die gleichsam als Trostmittel einer durchaus sklavisch
sich gebahrenden und dabei das Wort,Sklave4 ängstlich scheuenden Welt gege-
ben sind: wir reden von der ,Würde des Menschen4 und von der ,Würde der
Arbeit444 (336, 17-27). (Analog und z.T. noch krasser die im Nachlass stehende
dritte von den Fünf Vorreden: Der griechische Staat, KSA 1, 767, 25-769, 26).
Schließlich folgert er: „Demgemäß müssen wir uns dazu verstehen als grau-
same Grundbedingung jeder Bildung hinzustellen, daß zum Wesen einer Kultur
das Sklaventhum gehöre [...] Das Elend der mühsam lebenden Masse muß noch
gesteigert werden, um einer Anzahl olympischer Menschen die Produktion der
Kunstwelt zu ermöglichen. Hier liegt der Quell jenes schlecht verhehlten
Ingrimms, den die Kommunisten und Socialisten, und auch ihre blässeren
Abkömmlinge, die weiße Rage der Liberalen jeder Zeit gegen die Künste, aber
auch gegen das klassische Alterthum genährt haben44 (KSA 7, 339, 24-340, 2;
zur Polemik gegen Sozialisten und Liberale vgl. auch den ausführlichen Apho-
rismus MA II VM 304, KSA 2, 503).
Obwohl N. in seiner Erstlingsschrift weitgehend in den Bahnen Schopen-
hauers denkt und in seinem ganzen Frühwerk der Verehrung für ihn Ausdruck
verleiht, läßt er in der Frage der Sklaverei beiseite, daß Schopenhauer hier
eine entgegengesetzte Position vertrat. Dieser hatte in seinem Hauptwerk Die
Welt als Wille und Vorstellung, auch im Hinblick auf die in der Phase der Früh-
industrialisierung verbreitete Ausbeutung von Kindern, geschrieben: „Wie der
Mensch mit dem Menschen verfährt, zeigt z. B. die Negersklaverei, deren End-
zweck Zucker und Kaffee ist. Aber man braucht nicht so weit zu gehen: im
Alter von fünf Jahren eintreten in die Garnspinnerei, oder sonstige Fabrik, und
von Dem an erst 10, dann 12, endlich 14 Stunden täglich darin sitzen und die
selbe mechanische Arbeit verrichten, heißt das Vergnügen, Äthern zu holen,
theuer erkaufen. Dies aber ist das Schicksal von Millionen, und viele andere
Millionen haben ein analoges“ (Die Welt als Wille und Vorstellung I, Viertes
Buch, Kapitel 46: Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens; Frauenstädt,
Bd. 3, S. 663).
Eine noch schärfere Stellungnahme Schopenhauers gegen die Sklaverei,
die auf N. ebenfalls keinen Eindruck machte, obwohl sie auf den exakt doku-
mentierten Verhältnissen in den USA beruhte, steht in den Parerga und Parali-
pomena II, in § 114 der Abhandlung ,Zur Ethik4. Darin heißt es:
Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Thier [...] Ein vollwichtiges Beispiel
aus der Gegenwart liefert [...] die Antwort, welche die Brittische Antisklavereigesellschaft,
auf ihre Frage nach der Behandlung der Sklaven in den sklavenhaltenden Staaten der
Nordamerikanischen Union, von der Nordamerikanischen Antisklavereigesellschaft im
 
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