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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0261
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240 Die Geburt der Tragödie

sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung.] Wie schon die frühesten
Vertreter griechischer Philosophie und Dichtung werden hier die frühesten Ver-
treter des Christentums heroisiert. Dies gehört zu N.s Geschichtsschema, dem-
zufolge Frühstadien immer groß und tiefsinnig, Spätstadien flach und unbe-
deutend sind. Inwiefern die Verfasser der biblischen Schriften und dann die
Kirchenväter von Clemens von Alexandrien (etwa 150-215 n. Chr.) bis hin zu
Augustinus (4./5. Jh. n. Chr.) „furchtbare Naturen“ gewesen sein sollen,
erschließt sich ebenfalls nur aus diesem Geschichtsbild. Daß das „feige Sichge-
nügenlassen am bequemen Genuss“ „als die eigentlich antichristliche Gesin-
nung“ gegolten habe, ist in mehrfacher Weise problematisch: 1) In der sozialen
Realität gaben sich manche Angehörige der römischen Luxus-Gesellschaft Aus-
schweifungen hin, wie sie etwa Petronius in seinem Gastmahl des Trimalchio
satirisiert. Dies war aber im frühen Christentum eher Nebensache. In der
geschichtlichen Realität dominierte vielmehr die Erfahrung der Christenverfol-
gungen. Sie führte zu einer weitgehend apologetisch angelegten frühchristli-
chen Literatur. 2) Auf religiösem Gebiet stand dem aus dem Judentum ererbten
Monotheismus der Christen der antike Polytheismus gegenüber. 3) Im Bereich
der philosophischen Lebenslehren und der von ihnen geforderten Lebenshal-
tungen kommen zwei Hauptströmungen in Betracht: der Stoizismus und der
Epikureismus, auf die sich N. auch später immer wieder bezieht. Der Stoizis-
mus mit den Hauptrepräsentanten Seneca, Epiktet und Marc Aurel war streng
ethisch und zunehmend auch asketisch formiert. Die stoische Ethik hat gerade
diejenige des frühen Christentums, nicht zuletzt seine asketischen Tendenzen
stark geprägt. Es bleibt der Epikureismus, dessen von den Kirchenvätern pro-
pagiertes Zerrbild aber keineswegs der „weibischen Flucht vor dem Ernst und
dem Schrecken“ des Daseins entsprang. Vielmehr diffamierten die Kirchenvä-
ter Epikur, weil er die Religion, d. h. den Glauben an die Abhängigkeit von
Göttern, als schädlichen Wahn darstellte und weil Lukrez in seinem Werk De
rerum natura diese religionskritische Tendenz entschieden verstärkte sowie mit
programmatischen Huldigungen an Epikur verband. Zur interessengelenkten
Abwertung Epikurs durch die Kirchenväter und allgemein in der christlichen
Tradition vgl. den grundlegenden Artikel von Wolfgang Schmid im Reallexikon
für Antike und Christentum (RAC), Bd. 5 (1962), Sp. 681-819, besonders Sp. 774-
819.
78, 23-25 als ob es nie ein sechstes Jahrhundert mit seiner Geburt der Tragö-
die, seinen Mysterien, seinen Pythagoras und Heraklit gegeben hätte] Wieder
konfrontiert N. ein spätzeitlich-epigonales Kulturstadium mit einer archaisch-
ursprungshaften Zeit. Die Berufung auf die „Mysterien“ des 6. vorchristlichen
Jahrhunderts - die Eleusinischen Mysterien - ergibt nicht das von N. gewollte
zeitliche Unterscheidungsmerkmal, denn bis weit in die Spätantike hinein
 
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