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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0263
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242 Die Geburt der Tragödie

des Perikies - drangsaliert. Sokrates wurde bekanntlich zum Tode verurteilt.
Wenige Jahre vor dem Todesurteil gegen Sokrates verließ Euripides Athen, um
Zuflucht am makedonischen Königshof zu suchen. Daß er seiner eigenen auf-
klärerischen Tendenz „öffentlich in’s Gesicht schlug“, läßt sich nicht erkennen,
es sei denn, man interpretiert, wie N., seine erst posthum aufgeführte letzte
Tragödie, die Bakchen, als Widerruf seines früheren aufklärerischen Engage-
ments. N. selbst schließt sich dieser im 19. Jahrhundert gängigen (heute obsole-
ten) Interpretation alsbald noch in GT an. Vgl. den Kommentar zu 82, 11-83, 4.
79, 27-29 Umgekehrt ist es ja allerseits bekannt, wie Aeschylus und Sophokles
Zeit ihres Lebens, ja weit über dasselbe hinaus, im Vollbesitze der Volksgunst
standen] Für Aischylos trifft dies nur eingeschränkt zu. Es dauerte 14 Jahre, bis
er seinen ersten Sieg errang, außerdem spielt Aristophanes in den Fröschen
darauf an, daß er Athen verließ und in Sizilien starb. Sophokles dagegen
erhielt schon bei seiner ersten Tragödien-Aufführung den ersten Preis und
siegte insgesamt achtzehnmal - er besaß tatsächlich die „Volksgunst“.
80,14 f. als er für diese neuen Charaktere auch das neue Wort und den neuen
Ton suchte] Mit dem neuen Ton weist N. auf die neuen Formen der Musik in
den Chorliedern und Monodien des Euripides hin. Mit der durch die mehrfache
Wiederholung pointierten Hervorhebung des ,Neuen4 bei Euripides bleibt N.
im Rahmen seiner kulturkonservativen, am archaischen Aischylos orientierten
Kritik. Dabei folgt er wieder dem Aristophanes, der in seinen Wolken das
„Neue“ des Euripides (kouvcüv ettcüv und Kaivoiq npötypamv, V. 1397 und 1399)
im Gegensatz zum „Alten“ negativ wertet. Eine ganz positive Bedeutung dage-
gen erhält der ,Neuerer4 Euripides bereits in der Abhandlung Die Philosophie
im tragischen Zeitalter der Griechen: „besonders der große und jederzeit verwe-
gene, auf Neues sinnende Euripides wagte mancherlei durch die tragische
Maske laut werden zu lassen, was der Masse wie ein Pfeil durch die Sinne
drang“ (KSA 1, 869, 33-870, 2). Hier spielt noch deutlicher ein anderer Sinn
herein, den die Vorstellung des Neuerns bei den Griechen hat, z.B. bei Thuky-
dides: Diejenigen, die auf Neues sinnen (vEtüTcpi^ovTEq), sind „Unruhestifter“,
„Revolutionäre“.
80,19f. Euripides selbst, Euripides als Denker, nicht als Dichter.] Mit dieser
Unterscheidung greift N. eine seit August Wilhelm Schlegel etablierte Vorstel-
lung auf. In der achten seiner Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur
hatte A. W. Schlegel über Euripides geschrieben: „Man kann in ihm eine doppelte
Person unterscheiden: den Dichter, dessen Hervorbringungen einer religiösen
Feierlichkeit gewidmet waren [gemeint sind die Tragödien-Aufführungen an den
Großen Dionysien in Athen], der unter dem Schutze der Religion stand, und sie
also seinerseits auch wieder ehren mußte, und den Sophisten mit philosophi-
 
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